Er schob sich das graue Stück Fleisch in den Mund und begann langsam zu kauen. Sein Kiefer schmerzte auf der rechten Seite, das Essen schmeckte nach nichts. Sajan schien das nicht zu stören. Er schaufelte seine Portion mit einer Freude weg, als hätte er es mit einer kulinarischen Spezialität in großen Mengen zu tun. Aber Rej bekam den Brocken beim besten Willen nicht runter. Der Appetit war noch nie dagewesen, aber der Hunger war soeben auch völlig verflogen. Als er kurz aufsah, glaubte er, dass die beiden Personen, die mit ihnen am Tisch saßen, zu ihm herüber blickten.
"Es schmeckt gewöhnungsbedürftig", meinte die eine von ihnen, "aber es ist nicht das schlimmste Essen in der Woche." Die Stimme gehörte zu einem menschlichen Mann um die fünfundzwanzig, der das schwarze Haar locker zu einem Knoten gebunden hatte und sich durch einen Drei-Tage-Bart etwas älter mogelte. Lebendige blaue Augen musterten den Song-Kommendan.
"Das schlimmste Essen in der Woche gibt es morgen", pflichtete ihm eine freundliche Frauenstimme bei. Die dazugehörige Inhaftierte saß links neben dem anderen Mann und Sajan gegenüber, dadurch waren ihre Züge für Rejs getrübtes Augenlicht nicht mehr ganz so gut zu erkennen. Aber der eher rund wirkende hellblaue Schädel, die zu den Seiten weit abstehenden Ohrbögen und die großen Kulleraugen deuteten klar darauf hin, dass sie eine vom Volk der Beszar war. Ihr heller Teint wurde an manchen Stellen von glitzernden Schuppen überlagert und von beigegrauem schulterlangem Haar umrahmt, welches ab Augenhöhe in türkise Farbe überging. Beide Mithäftlinge wirkten auf den ersten Moment freundlich, aber was sich genau in ihrer Mimik abspielte, konnte der Widerständler nicht erkennen. Zumindest spiegelte sich in ihren Stimmen keine Feindseligkeit wieder. Höchstens etwas zurückgehaltene Neugier.
"Und ich dachte, gestern Abend hätte es das Übelste gegeben, was ich je gegessen habe", brachte sich Sajan in das angefangene Gespräch mit ein. "Das war eine schaurige undefinierbare Masse, Rej, seien Sie froh, dass Sie gestern Abend noch nicht hier essen mussten." Sein Einwurf brachte die Konversation sofort in Schwung.
"Darauf könnt ihr euch jetzt jeden Donnerstag abends einstellen. Aber auf der Skala der Mahlzeiten hier schafft es das Essen von gestern nur auf Platz vier der schaurigsten Menüs vom Xiantiao Hauptgefängnis." Der schwarzhaarige Mann sprach zu Sajan, da Rej nicht auf das Gespräch eingestiegen war. "Morgen Mittag kommt das Schlimmste. Und das wiederholt sich dann immer wieder. Ein Glück, dass jeder Monat nur zwei Donnerstage hat. Stellt euch vor, das gäbe es an einem Samstag." Er schüttelte sich demonstrativ. "Ich bin übrigens Rifka", stellte er sich Rej vor und streckte ihm die rechte Hand entgegen. "Wir hatten ja gestern schon das Vergnügen", meinte er zu Sajan und wartete darauf, dass der ihm Gegenübersitzende seine Hand ergriff.
Rej blickte von der Gabel, die nach dem ersten Bissen auf dem Teller liegen geblieben war, zu der Hand des Menschen. Statt den Gruß zu erwidern, fragte er undiplomatisch: "Ist es hier eigentlich immer so still?" Er wusste selbst nicht so genau, was er damit eigentlich gemeint hatte, den gesprächigen Mitinsassen gegenüber, oder aber das Schweigen, dass an den anderen vier Tischen herrschte.
Rifka nahm die Hand wieder zurück, hob die Schultern und schob sich eine Portion der undefinierbaren Beilage in den Mund. "Eigentlich nicht. Die anderen beobachten uns nur. Ob du uns auffrisst." Er grinste schief. "Oder in die Luft sprengst." Über diesen blöden Kommentar musste sogar Rej lachen. "Das überlege ich mir gerade noch", meinte er in sich hinein schmunzelnd. Er legte die Gabel beiseite und nahm seine Hand vom Tisch. Er hatte nicht vor, noch etwas von dem grauen Pampf zu essen. Dann hob er den Blick. "Dann gehe ich richtig in der Annahme, dass ich mich nicht vorstellen brauche?" Er sah zwischen den beiden Mithäftlingen hin und her, Rifka schüttelte den Kopf und die Beszarfrau nickte zeitgleich.
"Seit einer Woche ist hier von nichts anderem die Rede. Die ShaoSheiari trippeln aufgeregt durch die Gegend, seit die Segregator und die Shimaramaya das Song-Schiff platt gemacht haben und bekannt wurde, dass wir den Ex-Kommendan der Terroristen hier bei uns untergebracht bekommen." Der lapidar geäußerte Kommentar traf den Widerständler wie ein Faustschlag in die Magengrube. Die Segregator war das XSF-Schiff, dass die Tahemetnesut angegriffen und erfolgreich geentert hatte. Die sich sonst nicht sonderlich freundlich gesinnten Mächte der ShaoSetFai-Spezialkräfte von Xiantiao und der sich in alle Angelegenheiten einmischenden Cadence hatten sich irgendwie geeinigt und verbündet, um seinem Schiff und seiner Crew den Todesstoß zu verpassen. "Der bin ich dann wohl", murrte er freudlos. "ShaoSheiari, witzig", kommentierte er dann stattdessen das Wortspiel des Häftlings, ohne weiter auf dessen Aussage einzugehen, er versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, was in ihm vorging.
"Ja", erklärte dieser unnötigerweise, "wie Sheisheiari - Tänzerinnen eben. Wir nennen die ShaoSetFai hier so. Aber lasst sie das bloß nicht hören." Verschwörerisch blickte er von einem Soldaten zum anderen, die in den Raumecken Wache hielten und grimmig durch ihr Visier zu ihrem Tisch herüber blickten.
Die Beszarfrau lehnte sich über die Tischplatte zu Rej herüber und streckte ihre dreifingrige blassblaue Hand nach ihm aus. "Sie wirken sehr traurig", meinte sie mit freundlicher einfühlsamer Stimme. So sehr er sich auch bemüht hatte, nichts davon durchscheinen zu lassen, sie hatte es wohl trotzdem mitbekommen. Unwillig verzog er das Gesicht und rückte ein wenig tiefer in seinen Sessel, um vor ihrer Hand zurückzuweichen, auch wenn sie für eine tatsächliche Berührung zu weit weg gesessen hätte. "Glücklich darüber, hier zu sein, bin ich nicht gerade", gab er genervt als Antwort zurück. Der heutige Tag erschien ihm wie ein Marathonlauf. Erst der Transport, die schmerzhafte Behandlung und das Kennenlernen mit Dr. Bianco. Dann der freundliche wie nervtötende Zellengenosse und Krankenpfleger, dessen Hilfe er gezwungen war, anzunehmen. Das Herumgeschubse durch die XSF-Soldaten, die starrenden Blicke der anderen Mithäftlinge, ein am Tisch Sitzender, der scheinbar noch mehr redete, als Sajan und nun auch noch eine Lady, die mit ihm über seine Gefühle sprechen wollte. Es war alles verwirrend und kompliziert. Er wünschte sich, dass der Tag bald enden möge, doch er hatte noch den ganzen Nachmittag und Abend vor sich. Und er sollte ja auch noch den Verhörspezialisten vorgestellt werden.
Es wurde noch mehr am Tisch geredet, aber Rej klinkte sich völlig aus. Er musste mit seinen spärlichen Kräften sorgfältig haushalten und die bei jeder unbedachten Bewegung aufflammenden aggressiven Schmerzen raubten ihm immer wieder für einen Moment die Sinne. Irgendwie ging das weitere Gespräch an ihm vorüber und so begnügten sich die Beszar und der Mann namens Rifka damit, mit Sajan zu reden, der dieses Hobby mit ihnen leidenschaftlich teilte. Lange dauerte es nicht, da ertönte der Gongschlag erneut und signalisierte damit, dass die Essenszeit für heute um war. Die Leute an den anderen Tischen standen auf, nahmen ihr Tablett und stellten sich dann an der Doppelflügeltür auf, wo daneben ein Rollwagen stand, der für das Geschirr vorgesehen war. Daneben zählte einer der Wärter ab, ob auch jedes Besteckteil zurückgegeben wurde.
Rej zog das kaum angerührte Tablett auf seinen Schoss, bevor ihm Sajan helfen konnte. Dieser kümmerte sich um sein eigenes, transportierte dieses wieder auf den Schiebegriffen des Rollstuhls. Rifka und die Beszarfrau waren direkt vor ihnen, sie selbst stellten sich als Letzte an der Warteschlange an und es dauerte eine Weile, bis sie an die Reihe kamen. Der ShaoSetFai musterte mit undefinierbarem Blick das Tablett von Rej, machte keine Anstalten, ihm zu helfen. Dem bereitete es erhebliche Mühe, es dort hin zu bugsieren, wo es hin sollte. In dem Regal war in seiner Reichweite kein Platz mehr frei und so musste erneut der Krankenpfleger einspringen und helfen. Den XSF-Soldaten, die hinter ihnen das Schlusslicht bildeten, ging das schon wieder viel zu langsam und so trieben sie Rej und Sajan zur Eile an. "Moment, Moment", rief der Dunkelhaarige, "Sie sehen doch, dass das noch etwas Übung braucht."
"Das muss schneller gehen", raunzte einer der Wärter, während sich einige der Mithäftlinge aufgrund des kleinen Tumultes umdrehten und erneut Rej anstarrten. Dieser blickte missmutig zur Seite. Was glaubten die, wer er war? Er war ja nicht so geboren worden, er musste sich erst an sein Handicap gewöhnen.
Der Rollstuhl machte einen Satz nach vorne, als Sajan durch die Tür geschubst wurde, und landete in den Hacken eines schlaksigen braunhaarigen Alaver. "Ey, da stehen noch Leute!", beschwerte sich der Krankenpfleger bei den ShaoSetFai, die hinter ihm die Türen schlossen, während