Die Gänge gabelten sich immer wieder auf, sie wechselten die Richtung oder endeten in Kreuzungen und schon bald hatte Rej die Orientierung völlig verloren. Er hatte auch das Gefühl, dass sein Konzentrationsvermögen und sein Gedächtnis unter seinem Unfall gelitten hatten. Seit er aus dem künstlichen Koma geholt worden war, fiel es ihm schwer, in geordneten Bahnen zu denken und angefangene Gedanken zu Ende zu bringen. Aber er hatte sowieso nicht vor zu fliehen, darum spielte es für ihn keine Rolle, ob er sich den Weg zum Krankenbereich merken konnte. Und wenn er den stupiden Medic richtig verstanden hatte, dann würde er diese Gänge vor seiner Hinrichtung noch oft genug zu sehen bekommen.
Schließlich hob der Teamleiter der ShaoSetFai den linken Arm und die Truppe blieb stehen. Sajan hielt den Rollstuhl ebenfalls an und der XSF-Soldat zog einen Kartenbund aus seiner Tasche, suchte nach der Richtigen und zog sie durch das Lesegerät, sperrte dadurch die vergitterte Tür vor ihnen auf. Dann trat er zur Seite und der Konvoi setzte sich wieder in Bewegung, allerdings nicht sonderlich weit. Denn Zelle Are war die erste in einer Reihe von vier weiteren Zellen. Rej bemerkte rechts von sich eine Balustrade, hinter der es in einen großen Raum hinunter ging, links von ihm zog sich eine massive Mauer in die Länge, die ein paar Mal von vergitterten Türen unterbrochen wurden, während hinter ihnen das Tor wieder zugeschlossen wurde. Für diese relativ große Halle war es ziemlich ruhig, der Gefangene hatte mit mehr Lärm gerechnet, aber vielleicht waren die anderen Häftlinge gerade zur Arbeit.
"Sektion Jen, Zelle Are!", blaffte einer der ShaoSetFai und der Schließer zog erneut die Magnetkarte durch den Scanner. Die Gittertür vor ihnen öffnete sich elektronisch und rollte scheppernd zur Seite. Erneut winkte einer der Männer mit der Waffe und Sajan schob den Rollstuhl ins Innere der Zelle. Rej wollte sich nach hinten zu dem Ausgang umdrehen, konnte aber nicht, weil er von den Haltegurten und der Rückenschiene blockiert wurde. Ein metallisches Krachen machte aber auch ihm klar, dass sich die Zellentür hinter ihnen geschlossen hatte.
"Um zwölf Uhr ist Mittagsappell!", brüllte der Wortführer der Soldaten wieder. Rej fragte sich, ob der Mann überhaupt normal sprechen konnte. "Wir werden Sie nicht bitten!"
Der Gefangene hätte gerne etwas dazu gesagt, aber er wusste, dass sein Kommentar nichts als Ärger eingebracht hätte. So schwieg er und sah sich stattdessen in dem Raum um, der für die nächsten sechs Wochen sein Zuhause werden würde.
Es war ein kleiner Raum, der gerade genug Platz für zwei Betten, zwei Nachtkästchen, zwei kleine Tische am Fußende der Betten, einen Stuhl und einen Schrank bot. Die Zelle war wie in zwei Hälften geteilt, bis auf wenige Details wirkte sie in der Mitte gespiegelt. Über den Tischen hing jeweils eine Wandlampe, über den nebeneinander stehenden Nachtkästchen befanden sich zwei kleine vergitterte Fenster, oberhalb der normalen Kopfhöhe. Die Tür hinter ihm war leicht nach rechts versetzt und bot einem vierteiligen Spind genug Platz für die Kleidung beider Häftlinge. Und rechts von ihm befand sich in der schlecht gestrichenen kalkweißen Wand eine weitere Türe, die vermutlich zu den Örtlichkeiten führte. Der Boden war aus galvanisierten Metallfliesen, die Decke hing nicht weit über ihnen. Rej verspürte jetzt schon ein beklommenes Gefühl bei dem Anblick des neuen Heims. Selbstverständlich, er hätte einen größeren Bewegungsspielraum nicht nutzen können, aber allein zu wissen, dass er die nächsten sechs Wochen hauptsächlich diese vier Wände sehen würde, betrübte ihn.
Die Bettbezüge beider Betten waren schon bezogen, das rechte Bett war schon bewohnt. Ordentlich war es gemacht, aber auf dem Nachtkästchen daneben lag ein Datenblock, der vermutlich Sajan gehörte.
"Herzlich willkommen in unserer neuen Bleibe", eröffnete dieser fröhlich und schob den Rollstuhl in die Mitte des kleinen Raumes. "Ich bin schon seit gestern hier und habe mir erlaubt, mir das rechte Bett auszusuchen. Sie können das natürlich auch gerne haben, Rej, aber die linke Seite ist für Sie und mich praktischer, um Sie ins Bett und aus dem Bett heraus zu heben."
Rej zuckte mit den Schultern. Ihm war es völlig egal, wo er die nächsten Nächte verbringen würde. Bequemer wie in der Zelle bei Gericht würde es allemal sein. Dieses Bett schien bestand wenigstens aus Matratze und Bettzeug, und nicht aus einem steifen Gestänge, dass ihn dazu zwang, in einer unbequemen Position zu verharren.
"Es war nur ein Stuhl hier drinnen. Ich hab ihn jetzt mal auf meine Seite rüber gestellt. Wobei es auch in Ordnung für mich ist, wenn Sie sich mal auf meiner Seite aufhalten wollen." Er drehte den Rollstuhl um neunzig Grad, trat dann neben ihn und öffnete die Holztür, die den Blick auf ein kleines Bad freigab. Die Toilettenschüssel war schräg gegenüber, links davon ragte ein Waschbecken aus der Wand, darüber hing ein kleiner matter Spiegel und darüber eine vergitterte Neonröhre. "Hier ist das stille Örtchen. Das war es dann auch schon mit der Rundführung. Es ist hier alles etwas minimalistisch." Er schloss die Türe wieder. "Haben Sie irgendwelche privaten Gegenstände bei sich, die ich für Sie aufräumen kann? Diejenigen, die Sie stets griffbereit haben wollen ins Nachtkästchen, den Rest in den Spind?"
Rej sah den gesprächigen Mann nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf. "Nein, ich habe nichts bei mir." Sajan musterte ihn mit undefinierbarem Blick, dann deutete er auf den Spind. "Ich habe meine Sachen in die zwei Türen auf Ihrer Seite geräumt. Die anderen beiden Schranktüren sind mit dem Rollstuhl leichter zugänglich für Sie. Ich hoffe, auch das ist für Sie in Ordnung, Rej." Er zog den Stuhl unter dem quadratischen Tisch hervor und setzte sich schräg dem anderen Gefangenen gegenüber. Freundlich versuchte er über die Augen Kontakt zu dem anderen Mann herzustellen, aber dem ehemaligen Song-Kommendan war gerade nicht danach, er blickte an Sajan vorbei auf den Boden.
"Na, was wollen Sie jetzt machen? Wollen Sie im Rollstuhl sitzen bleiben, oder soll ich Ihnen lieber ins Bett helfen? Es sind noch fünfzig Minuten bis zum Mittagsappell." Rej überlegte für einen Moment. Gerade wünschte er sich nichts sehnlicher, als Ruhe, Erholung und eine bequeme Matratze unter seinem Rücken. Aber sich erneut wie ein Kind durch die Gegend tragen zu lassen, dieser Gedanke gefiel ihm gar nicht. Zumal er nach fünfzig Minuten dann auch wieder zurück in den Rollstuhl musste.
Der Krankenpfleger schien seine Gedanken zu lesen. "Machen Sie es nicht davon abhängig", meinte er und deutete zwischen der Fortbewegungshilfe und dem Bett hin und her. "Ich werde Sie noch oft genug tragen müssen und deshalb werden Sie sich schon sehr bald daran gewöhnt haben. Warum also nicht gleich jetzt damit anfangen?"
Rej verzog unwillig das Gesicht. Es ging ihm deutlich gegen den Strich, dass der andere Mann so leicht aus ihm lesen konnte. Sajan erhob sich von seinem Stuhl und schob den Rollstuhl an die Seite des linken Bettes, drehte ihn dabei um hundertachtzig Grad, so dass der weißhaarige Gefangene nun mit seiner verletzten Körperhälfte direkt neben der Bettkante saß. Er streckte seine Arme aus, und wollte sie unter Rejs Arme schieben, um ihn aus dem Rollstuhl heben zu können, aber dieser schob seine Hände fort.
"Lassen Sie das", meinte er mit angewidertem Unterton. Obwohl der Krankenpfleger ihm gegenüber so freundlich und zugewandt war, fühlte Rej sich äußerst unbehaglich, wenn ihm dieser zu nahe kam. Er sah ja selbst ein, dass er es alleine nicht hinüber in das Bett schaffen würde, dass er vieles alleine nicht schaffen würde, aber er hatte sich heute schon oft genug helfen lassen müssen. Er war nicht schwach und verletzlich, nur weil er verletzt war und sein Körper ihn nicht mehr so tragen konnte, wie er sich das wünschte. Irgendwie musste es doch möglich sein, alleine zurecht zu kommen.
Mit großer Anstrengung versuchte er mit seiner linken Hand über die rechte Körperhälfte hinweg zu greifen, um etwas von dem Bett zu fassen zu bekommen. Es fühlte sich nicht gut an, als sich sein Oberkörper so verdrehte. Er biss die Zähne zusammen und bekam so mit den Fingerspitzen eine Falte der Decke zu fassen, viel weiter kam er allerdings nicht. Wenn er an der Bettdecke zog, kam diese zwar zu ihm, er saß dann aber immer noch im Rollstuhl fest.
"Sehen Sie mich einfach als eine Erweiterung Ihrer Gliedmaßen an, nicht als Mensch", forderte Sajan ihn mit der seltsamen Idee auf, ergriff seine Hand und löste die Decke aus ihr. "Ich bin wie ein