»Oh, du meine Güte«, murmelte Chris neben ihr und es klang so entnervt, dass Nadeya einfach lachen musste. Die beiden lösten sich voneinander, als sie ihre Geschwister bemerkten. Irritiert blickten sie die beiden Neuankömmlinge an.
»Ähm...«, machte Khyra, die leicht rot wurde.
»Chris?«, sagte Kian und grinste leicht verlegen, während er Khyras Gesicht nicht länger umfasste. Stattdessen beobachtete Nadeya, wie seine Hand an ihrem Arm hinab glitt und ihre Finger umspielte, die sie mit den seinen verschränkte.
»Ich würde gern nach Hause gehen, Khyra«, sagte Nadeya. Ihre Schwester blickte verirrt von ihr zu Chris.
»Moment... ihr kennt euch? Ähm...«
Kian schien ebenso verwirrt zu sein wie Khyra. Chris ergriff die Initiative, indem er Khyra die Hand reichte.
»Hi Khyra. Ich bin Chris, Kians Bruder. Kian, das ist Nadeya, Khyras Schwester.«
Kian reichte auch ihr kurz die Hand.
»Freut mich«, brachte er heraus, während Khyra noch immer etwas verlegen aussah. Chris musterte die beiden.
»Also wie dem auch sei. Ich gehe jetzt Nadeya nach Hause bringen und... naja. Wenn ihr beide vorhabt, die Nacht in unserer Wohnung zu verbringen... seid entweder fertig, wenn ich nach Hause komme oder wenigstens nicht so laut.«
»Oh haha, Chris. Du bist wirklich unglaublich komisch«, keifte Kian ihn voller Sarkasmus an und ging spielerisch auf seinen Bruder los. Nadeya trat neben ihre Schwester und packte ihre Hand.
»Alles okay bei dir?«
Khyra strahlte sie an.
»Mehr als okay.«
Nadeya musste einfach lächeln. Ihre Schwester sah so glücklich aus. Sie hoffte nur, dass sie es trotzdem schaffte, mit Vernunft an die Sache heranzugehen.
»Du hast nicht wirklich vor, die Nacht mit ihm zu verbringen, oder?«
Khyra lachte.
»Nein, du dumme Nuss. Du kennst mich. Im Übrigen, ich glaube, Kian sieht das ganz genauso.«
Nadeya verdrehte die Augen.
»Woher bitteschön, kennst du seinen Bruder?«
»Wir reden morgen«, antwortete Nadeya rasch, als die beiden sich ihnen wieder zu wandten.
»Können wir gehen?«, fragte Chris nun und lächelte sie an. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als er das tat. Kurz begegnete sie Khyras fragendem Blick, doch sie ging nicht darauf ein. Sie setzte sich in Bewegung, winkte Khyra und Kian noch einmal zu und wandte sich dann zur Straße um. Chris ging dicht neben ihr, doch er hielt gerade so viel Abstand, dass sie einander nicht berührten.
»Darf ich dich etwas fragen?«
Nadeya zögerte.
»Fragen ja. Ob ich antworte, überlege ich mir dann.«
Sein Lachen hallte von den Häusern in der engen, menschenleeren Straße wider.
»Schieß los!«, sagte Nadeya.
»Denkst du, dass die beiden jetzt... ein Paar sind?«
Sie blickte ihn kurz an und zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ist doch auch nicht mein Problem.« Sie hörte selbst, wie abweisend das klang. Dabei entsprachen ihre Worte nicht einmal der Wahrheit. Nichts würde sie mehr freuen, als wenn Khyra endlich jemanden gefunden hatte, der sie gut behandelte und liebte. Und zugleich würde sie nichts mehr schmerzen, als wenn er sie verletzte.
»Komm, du liebst deine Schwester.«
Überrascht sah sie ihn an. Wie kam er darauf?
»Was hältst du denn davon?«, blaffte sie ihn an.
»Kian hat sie überall gesucht. Er hat im Krankenhaus angerufen und nachgefragt, aber die durften ihm natürlich keine Auskunft geben. Und er ist seit dem täglich joggen gewesen. Er hat nichts gesagt, aber ich glaube er hat gehofft, sie dort wieder zu treffen. Jedenfalls kam er immer mit schlechter Laune zurück.« Er blickte sie an.
»Glaub mir, Kian ist kein... Playboy oder so. Ich habe ihn noch nie so erlebt wie in den letzten Wochen. Sie scheint ihm echt den Kopf verdreht zu haben.«
Nadeya musste plötzlich lächeln.
»Das ist ja fast zu schön, um wahr zu sein«, murmelte sie leise. »Mit Alan und mir lief das damals ganz anders ab.«
»Alan?«
Sie hob den Kopf und begegnete seinen blauen Augen. Automatisch blieb sie stehen.
»Ja. Alan. Mein Freund.« Sie beobachtete akribisch genau seine Gesichtszüge. Er verzog keine Miene, doch das schöne Lächeln war verschwunden.
»Du hast nicht erwähnt, dass du einen Freund hast.« Er schmunzelte und setzte sich wieder in Bewegung. Rasch folgte sie ihm. Rechts von ihnen lag das Ufer des Shannon. Nadeya vernahm das leise Rauschen des Flusses.
»Du hast nicht gefragt«, antwortete sie und lächelte. Er grinste. Eine Weile schwiegen sie wieder, bis sie das Haus erreicht hatten, in dem Nadeya wohnte. Es stand nicht direkt am Ufer, sondern auf der anderen Straßenseite. Vor dem Weg, der zur Haustür führte, blieben sie stehen. Chris kaute auf seiner Unterlippe herum, sah zur Tür hinüber und schien mit sich zu ringen.
»Danke fürs nach Hause bringen«, sagte sie rasch. Ihre Blicke begegneten sich.
»Hab ich gern gemacht«, gab er zurück. Erneut zögerte er.
»Nadeya ich will ganz ehrlich zu dir sein. Eigentlich würde ich dich gern besser kennenlernen.«
»Warum fragst du mich dann nicht, ob wir was zusammen machen können?« Es war ihr einfach so herausgerutscht. Im nächsten Moment hätte sie sich auf die Zunge beißen mögen.
»Ich dachte, du hast einen Freund«, gab er zurück und lachte. Sie wurde rot.
»Hab ich auch. Aber kennenlernen muss ja nicht gleich mehr bedeuten.«
Er lächelte.
»Hast recht.«
Einen Moment schwieg er, bevor er ihr seinen Vorschlag unterbreitete:
»Also, treffen wir uns morgen, sobald du ausgeschlafen hast? Ich lade dich auf einen Kaffee ein.«
Eigentlich hatte sie ja Khyra angekündigt, mit ihr einen Kaffee trinken zu gehen, doch die würde ihr ohnehin absagen, so wie sich die Dinge entwickelt hatten.
»Sei um 11 hier«, gab sie trocken zurück und wandte sich zur Tür um. Chris lächelte wieder.
»Versprochen. Ich bin da.«
Ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken. Sie zwang sich, ihm nicht nachzusehen und stattdessen den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Bevor sie jedoch die Tür zuzog, konnte sie nicht widerstehen, sich noch einmal umzudrehen. Aber Chris war schon einige Meter gelaufen. Mit einem nervösen Ziehen im Magen blickte sie ihm nach und drückte schließlich die Tür zu. Einen Augenblick lehnte sie sich an die Wand. Das war kein Date! Sie war vergeben. Sie wollte bloß mit einem Freund einen Kaffee trinken. Da war absolut nichts Verwerfliches dran.
Sie atmete noch einmal tief durch und musste unwillkürlich lächeln, als ihr seine Augen in den Sinn kamen. Wie konnte blau nur so warm erscheinen? Doch das war sein Blick. Warmherzig und offen.
Nadeya stieß sich von der Tür ab und nahm beschwingt die Stufen hinauf zu ihrer Wohnung. Als sie jedoch die letzte Treppe erreicht hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihr erster Gedanke war, dass direkt vor ihrer Tür eine Leiche lag und sie in einen Mordfall verwickelt war. Dann erkannte sie die abgewetzten Sneakers an den langen Beinen, die auf dem Fußboden