Kapitel 6 - Khyra
Eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust gehabt, ins Underground zu gehen. Etwas mit Nadeya unternehmen, ja, das schon. Aber der Pub war vor allem freitags immer gerammelt voll. Hinzu kam, dass die letzte Nacht besonders anstrengend gewesen war. Die Regentage im Mai hatten zu einer Grippewelle geführt und die meisten Stationsschwestern hatten entweder schon krankgefeiert oder standen kurz davor.
Deshalb waren sie letzte Nacht unterbesetzt gewesen und sie hatte allein drei Geburten meistern müssen. Khyra konnte von Glück reden, dass es sich um einfache Entbindungen gehandelt hatte. Die Mütter waren freundlich gewesen, die Väter anwesend und es hatte keine Komplikationen gegeben.
Bei der ersten Geburt hatte sie selbst als Erste das Neugeborene gehalten. Das waren die Momente, in denen sie ihren Beruf einfach liebte. Wenn sie die Winzlinge in die Arme ihrer Eltern legen durfte.
»Habt ihr das mit Alice gehört?«, fragte Olivia gerade und setzte ihre Ich-habe-brandheiße-Neuigkeiten-Miene auf. Khyra mochte sie nicht besonders, doch sie war nur gemeinsam mit Beatrice zu haben und sie war mit Lauren übereingekommen, dass die Gesellschaft von Beatrice es durchaus wert war, Olivias nervtötender, näselnder Stimme hin und wieder ausgesetzt zu sein.
»Nein, erzähl!«, sagte Beatrice. Olivia setzte einen überheblichen Blick auf.
»Sie hat was mit Dr. Robert. Ich hab gesehen, wie sie zusammen in ein Café gegangen sind.«
Lauren und Beatrice stießen gleichzeitig hohe, kreischende Laute aus, während Khyra die Blondine ungläubig anstarrte.
»Olive?«
Die zog eine ihrer perfekt gezupften Brauen in die Höhe und bedachte sie mit einem herablassenden Blick.
»Sag bloß, das wusstest du schon«, sagte sie und sah aus, als glaube sie nicht daran.
»Ehrlich gesagt... er ist ihr Cousin.«
»Sie hat was mit ihrem Cousin?« Lauren verzog angewidert das Gesicht.
»Nein, du Banane.« Khyra lachte.
»Wer weiß, warum sie zusammen in ein Café gegangen sind. Das heißt doch längst nichts.«
Olivia straffte die Schultern und warf Blicke durch den großen Schankraum. Natürlich. Kaum war ihre Neuigkeit entkräftet, suchte sie nach einem Opfer für ihre... keine Ahnung, Blacklist?
»Ist er das? Der Typ, der für Wretched Melon einspringt?«, fragte sie gerade. »Heiß sieht er ja aus, aber nicht, als könnte er der Band das Wasser reichen. Ich hatte mich so darauf gefreut, sie zu hören. Und dann kommt man hier an und was ist? Nichts. Der Laden hat echt nachgelassen.«
Khyra wandte sich zur Bühne um, wo sich gerade ein Typ auf einem Barhocker niederließ. Ein Tontechniker half ihm, die Gitarre anzuschließen und die Höhe des Mikrofons zu verändern.
»Stimmt. Aber vielleicht kann eine von uns ihn anschließend mit nach Hause nehmen. Dann hat sich der Abend doch noch gelohnt.« Beatrice lachte schallend.
Der Tontechniker wandte sich ab und gab damit die Sicht auf den jungen Mann frei, der nun seine Gitarre zurechtrückte und kurz in das grelle Scheinwerferlicht blinzelte. Sein Haar war mehr als schulterlang und leicht gelockt. Es hing ihm gekonnt wirr im Gesicht, und als er den Blick hob und den ersten Akkord auf seiner schwarzen Gitarre spielte, stockte Khyra der Atem. Kian!
Sie hatte ihn nicht direkt erkannt, weil sie ihn bisher nur mit Pferdeschwanz gesehen hatte. Doch er war es. Ohne Zweifel.
Das Lied, das er sang, nahm sie kaum wahr. Zu gefesselt war sie von seinem Anblick. Sie saßen nicht weit von der Bühne entfernt und Khyra konnte sehen, dass er seine Augen geschlossen hatte, während er das Lied auswendig spielte. Es gab keinen Notenständer, auf den er hätte schielen können.
Fasziniert beobachtete Khyra ihn. Die Auf- und Abbewegung seines rechten Armes, die Präzision, mit der er die Griffe auf dem Gitarrenhals formte und sein Mund, der die Worte sang, die kaum zu ihr durchdrangen.
In diesem Augenblick riss Olivias schrilles Lachen sie aus ihrer Trance. Sie zuckte zusammen und riss den Blick von Kian los. Ihre Kolleginnen beobachteten sie und grinsten sie frech an.
»Interesse?«, fragte Lauren. Khyra streckte ihr die Zunge heraus.
»Ich kenne ihn. Deshalb war ich etwas überrascht.« Etwas, war wohl untertrieben. Sie spürte noch immer, wie ihr das Herz gegen die Rippen hämmerte.
»Im Ernst? Kannst du den Kontakt herstellen?«, fragte Beatrice begeistert. Khyra starrte sie einen Augenblick an und merkte zu spät, wie viel Wut sie in diesen Blick gelegt hatte.
»Ich gehe mir was zu trinken holen«, sagte sie rasch und stand auf, obwohl die Bedienung schon zweimal an ihrem Tisch gewesen war. Sie hatte jedoch nicht vor zu den Frauen zurückzukehren. Ehrlich gesagt, ihr war völlig unklar, was sie jetzt tun sollte.
»Hey Leute, mein Name ist Kian und ich hab die große Ehre, heute Abend für euch zu spielen. Ihr seid ein Hammer Publikum. Ich hoffe, meine Musik gefällt euch. Genießt den Abend, und wenn ihr mehr von mir hören wollt, abonniert doch meinen YouTube-Channel.«
Khyra blickte zwischen den Beifall klatschenden Leuten hindurch zur Bühne. War es wirklich bloß ein mega großer Zufall, dass Nadeya und sie ausgerechnet heute hierhergekommen waren? Oder hatte ihre Schwester von dem Auftritt des YouTubers gewusst?
Sie wusste plötzlich, was sie tun wollte. Wenn das hier ein Zufall war, dann wollte sie ihn nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie glaubte nicht an Schicksal. Nicht einmal daran, dass alles vorherbestimmt sei. Und doch hatte sie keine Erklärung für das hier. Ebenso wenig hatte sie gewusst, was es mit diesem Kuss auf sich gehabt hatte. Es hatte sich so natürlich angefühlt, wie atmen. So selbstverständlich, dass sie es nicht in Frage gestellt hatte. Wochenlang hatte sie auf einer Wolke des Glücks gelebt, die ständig von den gemeinen Gewitterwolken überlagert wurde, die der Tod ihrer Mutter hatte aufziehen lassen. Noch immer weinte sie nachts, wenn sie an sie dachte. Doch es wurde allmählich erträglicher.
Langsam bahnte sie sich einen Weg durch die Menschenmenge, die Kian lauschte, ihn ansah und - nach ihrem Eindruck jedenfalls - gefesselt von seiner Musik war. Eine junge Frau hatte sogar Tränen in den Augen.
Kian taute mit jedem Lied etwas mehr auf und wurde wenn möglich sogar noch besser. Sie beobachtete ihn genau, registrierte, dass seine Haltung mit jedem Applaus lockerer wurde und sein Lächeln weniger nervös.
Sie musste erneut an diesen Kuss denken, an seine braunen Augen, die sie in ihren faszinierenden Bann gezogen hatten. Sie war so fixiert auf ihn gewesen, dass der Schmerz in ihrem Innern für diesen Augenblick ausblieb. Und als seine warmen, weichen Lippen auf die ihren getroffen waren, hatte sie nichts mehr gefühlt und doch alles. Er war in diesem Moment alles gewesen. Sie hatte ihre Hand gehoben und sie in seinen Nacken gelegt, während sich seine vollkommenen Lippen leicht auf den ihren bewegten. Dieselben sangen nun diese Worte. Und sie war tief berührt von der Inbrunst seiner Lieder. Zwar konnte sie sich nicht auf den Text konzentrieren, doch das angenehme Gefühl, das sie manchmal beim Musikhören befiel, überkam sie auch jetzt. Sie war vollkommen ruhig, entspannt. Während sie neben der Bühne am Rand der anderen Gäste stand, beobachtete sie ihn und wünschte sich nichts mehr, als dass er sich noch an sie erinnerte.
Irgendwann kündigte er das letzte Lied an, strahlte ins Publikum und schloss wieder die Augen, um sich zu konzentrieren. Zuerst zupfte er auf der Gitarre eine komplizierte Tonabfolge, bevor seine tiefe, raue Stimme mit diesem erhabenen Klang die Melodie vervollständigte.
Schließlich musste er eine Zugabe geben und das Publikum klatschte begeistert, als der Barbesitzer zu ihm auf die Bühne trat. Er bedankte sich bei Kian dafür, dass er eingesprungen war, und kündigte an, dass man ihn von nun an jeden Dienstag im Pub würde spielen hören können.