Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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nur noch die Moa Bay zwischen uns und Van Dien. Mit dem Anlaufen der größten Stadt Aotearoas nahmen wir zwar einen nicht unerheblichen Umweg in Kauf, sahen es jedoch als notwendig an, die Vorräte aufzustocken, bevor es ins Niemandsland ging. Für Luke bedeutete es in seine alte Heimat zurückzukehren, die er vor vielen Jahren als Kind verlassen hatte. Wenn er aufgeregt war, ließ er es sich nicht anmerken.

      Zeitiger als erwartet tauchte Kap Farewell auf, jene schmale, bewaldete Landzunge, die sich wie eine lange Nadel in den weichen Bauch der Tethys bohrte. Ich traute meinen Augen kaum. Auch Krister zeigte sich überrascht.

      „Wir müssen wie die Teufel gefahren sein“, rief er aus. „Kann das wahr sein? Natürlich, keine Frage, das ist unverkennbar Kap Farewell.“

      „Und ob das Kap Farewell ist“, stimmte ich ein. „Jetzt schaffen wir es heute sogar noch bis Van Dien, Krister, da gehe ich jede Wette ein.“

      „Wenn der Wind weiterhin so pfeift, auf jeden Fall. Das sollten wir ausnutzen, wer weiß, wie lange er uns noch so gnädig verbunden ist.“

      Er blieb uns verbunden. Die Umsegelung des Kaps erforderte einiges Fingerspitzengefühl, denn die See wurde merklich rauer, und die Brise nahm Starkwindcharakter an. Hohe Wellen schlugen von achtern gegen die Bootswand. Mit geblähtem Segel fuhren wir vor dem Wind her und legten noch an Geschwindigkeit zu. Nach Umrundung des Kaps ging ich auf südlichen Kurs und wich dadurch von der Ideallinie ab, die uns in Rekordzeit an Mithanforg vorbei nach Zadar gebracht hätte. Doch dort wollten wir noch gar nicht hin. Unser Ziel hieß jetzt Van Dien. Die See beruhigte sich schlagartig. Kein Wunder, lag doch die Moa Bay, von drei Seiten vom Festland umgeben, relativ geschützt da, ein natürlicher Hafen wie man ihn sich nur wünschen konnte. An ihrem südlichsten Punkt hatten die ersten Siedler im Jahre 57 die Stadt Van Dien gegründet, welche sich bis zu ihrer Zerstörung durch die Opreju 223 Jahre später zur größten Stadt Aotearoas gemausert hatte. Nach Ende des Krieges dauerte es annähernd 150 Jahre, bis es die Menschen wieder wagten, auf den zerfallenen Ruinen eine neue Stadt aufzubauen.

      Im Gegensatz zu Cape Travis, das sich sanft an die dicht bewaldeten Hügelketten des Monteskuro anschmiegt, präsentiert sich Van Dien relativ flach und eben. Nur am westlichen Stadtrand zeigt sich eine nennenswerte Erhebung, Van Diens Hausvulkan, der knapp vierhundert Meter hohe Catarakui.

      Schon aus weiter Entfernung erblickten wir die vielen weiß schimmernden Häuser, die sich aneinander reihten und im Zentrum zu einem Haufen zusammenballten. Ein imposanter Anblick. Die Moa Bay in Windeseile durchquert, näherten wir uns ebenso schnell dem Festland. Erste Boote tauchten auf, Fischer wie wir, die die See mit ihren Netzen durchkämmten. Wir winkten zur Begrüßung, indessen nahm man wenig Notiz von uns, waren wir doch nur ein Boot von vielen. Niemand konnte uns ansehen, dass wir eine mehrtägige Reise hinter uns hatten und vom anderen Ende Avenors kamen.

      Ich steuerte auf den Hafen zu. Anders als in Stoney Creek gab es hier eine Unmenge von Anlegeplätzen, an denen unzählige Boote vertäut lagen. Jetzt, am beginnenden Abend, herrschte reges Treiben, brachen viele Fischer zum Fangzug auf. Im Hintergrund glaubte ich die Betriebsamkeit eines Marktes zu erspähen. Die vielen Menschen, denen wir uns annäherten, entmutigten ein wenig. Als echtes Dorfkind pflegten mich Ansammlungen wie diese eher zu erschrecken als anzusprechen und entsprechend schweigsam harrte ich der Dinge, die da auf uns zukamen. Wie lange war ich schon nicht mehr in Van Dien gewesen? Es mussten über vier Jahre her sein, als Rob und ich uns dem Treck nach Osten angeschlossen hatten, um einmal die größte Stadt Aotearoas zu besuchen. Schon damals hatte sie mir nicht sonderlich gefallen, und auch heute spürte ich dieselbe Abneigung.

      An einem der vielen geschäftigen Landungsstege legten wir an und gingen von Bord. Menschen wohin ich sah. Mit knapp siebentausend Einwohnern war Van Dien sogar noch bevölkerungsreicher als Cape Travis. Kein Vergleich mit meinem kleinen Fünfhundertseelendorf. Für Luke bedeutete es die erste Rückkehr in seine Heimatstadt nach über zehn Jahren. Er wirkte aber nicht im Mindesten aufgewühlt oder unruhig. Vielleicht ein wenig verunsichert. Sah so aus, als hätten jene zehn Jahre sämtliche Erinnerungen ausgelöscht. Mit großen Augen sah er sich aufmerksam um.

      „Und wie fühlt es sich an wieder hier zu sein, Luke?“ erkundigte sich Krister.

      Der Gefragte zuckte mit den Schultern.

      „Das kann ich jetzt noch nicht sagen“, meinte er unbestimmt.

      Wir ließen den Landungssteg hinter uns und fanden uns sogleich auf dem Markt wieder, den ich bereits von See aus gesichtet hatte. Hier wurde alles feilgeboten was man sich vorstellen konnte.

      Hinter dem ersten Stand, der mir ins Auge fiel, saß eine betagte Frau mit schneeweißen Haaren in einem leuchtend purpurfarbenen Gewand und verkaufte warme Speisen, deren Bestandteile sich auch bei näherem Hinsehen schwer erraten ließen. Energisch wedelte sie mit einem fleckigen Tuch über die irdenen Gefäße hinweg, um die Scharen von Fliegen zu verjagen, die sich darüber hermachten.

      Ein hagerer alter Mann und eine dicke Frau ähnlichen Alters zerteilten nur wenige Meter daneben eine frisch geschlachtete Ziege. Obwohl ich in meinem Leben schon unzählige Tiere zerlegt hatte, fand ich diesen Prozess immer noch abstoßend und wandte die Augen ab.

      Direkt nebenan priesen zwei besonders attraktive junge Frauen mit strohgelben Haaren Obst an. Sie trugen eng anliegende Kleider mit blauen Mustern und hatten sich Leinenschürzen umgebunden. Ich blieb stehen und betrachtete die beiden reizenden Wesen, die meine Aufmerksamkeit registrierten und zu tuscheln anfingen. Die eine kicherte und hielt sich verstohlen die Hand vor den Mund. Ich grinste zurück. Jedenfalls solange, bis mich jemand am Arm ergriff und wegzog.

      „Unter 'die Nacht hier verbringen' verstehe ich was anderes“, hörte ich Krister sagen. „Dich kann man wirklich nicht alleine lassen, Jack.“

      Ich sah mich noch einmal um. Die beiden jungen Marktfrauen blickten lächelnd hinterher. Die kleinere deutete sogar mit dem Finger auf mich.

      „Waren die nicht Zucker?“ schwärmte ich und lief direkt in einen vielleicht dreizehnjährigen Jungen hinein, der einen Handkarren mit undefinierbarem Plunder hinter sich herzog. Im letzten Moment wich er zur Seite und warf mir einen bösen Blick zu.

      „Deswegen sind wir nicht hier“, erwiderte Krister knapp und ließ mich wieder los. „Und immer nach vorne sehen! Ah, ich denke, das dort könnte ein Gästehaus sein.“

      Wir steuerten das alleinstehende Gebäude an, das mit jedem Meter heruntergekommener aussah und sich am Ende als Taverne entpuppte. Der Abend hatte zwar noch gar nicht begonnen, aber Männer jeden Alters saßen an den Tischen und tranken und schwatzten und ließen es sich gut gehen. In Stoney Creek gab es auch Tavernen wie diese, nur ging es dort erheblich ruhiger zu.

      „Gibt es hier ein Gästehaus?“ Ich wandte mich wahllos an einen sitzenden Gast in meinem Alter, der neugierig dreinblickte.

      „Wo kommt ihr her?“ fragte er zurück, unser Gepäck beäugend.

      „Aus Stoney Creek“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Gerade angekommen.“

      „Mit welchem Treck?“

      „Mit keinem, wir sind mit dem Boot hier.“

      „Ah ja?“ Seine merkwürdig grasgrünen Augen musterten mich. „Um diese Jahreszeit wagen das nicht viele. Ihr müsst in wichtiger Angelegenheit unterwegs sein.“

      „Nicht unbedingt“, gab ich zur Antwort. „Wo ist denn nun das nächste Gästehaus?“

      „Wenn ich dir einen Rat geben darf, Fremder, dann geh auf dein Boot zurück und verbringe die Nacht dort“, mischte sich sein Tischnachbar ein, ein allmählich ergrauender, grobschlächtiger Kerl in seinen späten Vierzigern, welcher mir auf den ersten Blick unsympathisch war. „Van Dien ist nicht gerade für weiche Betten bekannt. Und außer Wanzen wirst du in ihnen auch nichts Unterhaltendes vorfinden.“

      Höhnisches Gelächter. Unversehens standen wir im Mittelpunkt des Interesses zweier Tische.

      „Hör nicht auf ihn!“ sagte Grünauge, schob seinen Stuhl zurück und sprang förmlich auf. Er durfte in Kristers Alter sein, verfügte auch über