Gesättigt und ermüdet wusch ich meine Wunden ein weiteres Mal mit Salzwasser aus, um einer Infektion vorzubeugen. Weder Krister noch ich hatten irgendeinen Gedanken an Heilmittel oder Wundsalben verschwendet. Es sorgte mich jedoch herzlich wenig. Aus heutiger Sicht beneide ich die Jugend um ihre gesegnete Sorglosigkeit, um diese glückselige Überzeugung, unbesiegbar und unvergänglich zu sein. Eigenschaften, die sie unerschrocken auch schier Unvorstellbares meistern lässt. Ich sehne mich heute, alt und vom Leben längst gebeugt, oftmals zurück in diese unwiederbringlich verlorene Zeit, die so kurz währte und doch die kostbarste gewesen ist.
Die Ostseite der Halbinsel Longreach lag vor uns, als sich die Xyn am östlichen Horizont aus der feuerroten Tethys erhob. Die See hatte sich über Nacht mitnichten beruhigt, es versprach ein weiterer unruhiger Tag zu werden.
Schon bei der Fahrt durch den engen Kanal hinaus aus der Lagune fiel uns der deutlich stärkere Wellengang auf. Wir meisterten diese Herausforderung diesmal jedoch problemlos. Ein kreischendes Meer aus Seevögeln auf der Jagd nach Fisch für die Brut umschwirrte uns wie Motten das Kerzenlicht. Sehr zu Lukes Verdruss schlug Krister hin und wieder mit dem Paddel nach einem seiner Meinung nach zu aufdringlichen Vogel, doch gelang ihm kein Treffer. Dann erwischte er überraschenderweise ein dunkelgraues Federvieh mit schlangenförmigem Hals und überproportional großen Schwimmfüßen, das nach erfolgreichem Fang auf erstaunlich stummelhaften Flügeln umständlich aus dem Meer abhob und ihm dabei beinahe mitten ins Gesicht geflattert wäre. Mit dem Paddel fegte er das schrill aufschreiende Tier zur Seite, das wieder ins Wasser stürzte und spurlos verschwand.
„Sinnloses Töten ist ein barbarischer Akt“, hatte sich Luke erregt, erntete jedoch nur Spott in Form eines obszönen Geräusches, das Krister mit der Zunge erzeugte.
„Quatsch nicht herum, so einfach sind die Viecher nicht totzukriegen“, wies er seinen Stiefbruder zurecht.
Luke sagte nichts mehr darauf, schien sich aber für die nächsten Stunden noch weiter in sich zurückzuziehen. Ich bemerkte, mich ein Stück weiter für ihn zu öffnen. Seine durchaus anerkennenswerte Liebe zur Natur schien nicht zu diesem in sich zurückgezogenen, verletzlich wirkenden Jungen zu passen, der bereits im Körper eines wehrhaften, ausgewachsenen Mannes wohnte, was wiederum ein Kuriosum in sich darstellte. Ein Schaf im Wolfspelz. Ein äußeres Erscheinungsbild, das so gar nicht mit dem dazugehörigen Innenleben einhergehen wollte. Ich wusste nicht, ob mich diese merkwürdige Mischung abstieß oder eher anzog, nahm mir jedoch vor, Luke nicht mehr ganz so schroff anzugehen. Womöglich hatte es noch nie jemanden wirklich interessiert, wie er unter dem Tod seiner leiblichen Eltern gelitten hatte, wie sehr er wahrscheinlich heute noch daran krankte. Zum ersten Mal überhaupt begann ich mich für seine Geschichte zu interessieren.
Was wusste ich eigentlich wirklich über ihn? Schon die Umstände seiner Ankunft in Stoney Creek, wie ich mir ins Gedächtnis rief, waren von meiner Seite aus weitgehend unbeachtet geblieben. Die Tatsache, dass den alten Anders Bergmark, Kristers Vater, mit Lukes Mutter eine wenn auch weit entfernte Verwandtschaft verband, lieferte wohl den Grund, den Waisenknaben aufzunehmen. Ich weiß noch wie Krister Rob und mir an einem dieser ersten heißen Frühlingstage vor acht Jahren – ja, es mussten wohl jetzt acht Jahre her sein – davon berichtete. In einem Nebensatz. Völlig beiläufig.
„Es wird höchste Zeit, mein eigenes Haus zu bauen“, hatte er uns eröffnet. „Zuhause bleibt langsam keine Luft mehr zum Atmen. Glaubt ihr das? Jetzt nehmen sie auch noch einen Waisenjungen auf. Als verfügte das Haus über unbegrenzten Raum. Ich fasse es nicht!“
„Einen Waisenjungen?“ fragte Rob, seine Arbeit für einen Augenblick unterbrechend. Sintflutartige Regenfälle in den letzten Tagen hatten den befestigten Weg vom Dorf hinunter zur Küste fortgewaschen und nun lag es an uns, diesen wieder einigermaßen instand zu setzen. Zu diesem Zweck hatten wir Kies in rauen Mengen zusammengetragen.
„Unglaublich, nicht wahr? Es wird wirklich höchste Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich muss da raus.“
„Wer ist es?“ wollte Rob wissen. Es war zwar nicht so, als kannten wir uns bestens mit der Bevölkerung der Siedlung aus, aber auch meines Wissens nach gab es keine Waisenkinder in Stoney Creek.
„Ach, irgend so ein Bübchen aus der fernen Verwandtschaft. Er ist gestern mit dem Treck aus Cape Travis angekommen. Seine Mutter und mein Vater sind über viele Ecken miteinander verwandt. Na ja, Lukas’ Eltern sind gestorben, ganz kurz hintereinander. Die in Van Dien wussten nicht, wohin mit ihm.“
„Van Dien? Sagtest du nicht, er käme aus Cape Travis?“
„Ja, ursprünglich kommt er aus Van Dien, Jack.“
Zwischen Stoney Creek, Cape Travis, Van Dien, Lake Sawyer und Willer, den fünf letzten von Menschen noch besiedelten Ortschaften, bestanden lockere Handelsverbindungen. Man handelte mit Salzfisch, Pökelware, Häuten und Fellen, Bauholz, Molkereiprodukten, Tee, Wein und manch anderen Erzeugnissen, die in einer Ecke Aotearoas rar waren, in einer anderen dafür im Überfluss vorkamen. In den letzten Jahren war dieser Handel wieder stark aufgeblüht, vor allem als mit der erfolgreichen Wiederbesiedelung von Willer die Menschen wieder Zugang zu einem großen Binnengewässer bekamen. Die Nachfrage nach delikaten Süßwasserfischen, Flusskrebsen, Chigalon und vielerlei anderen im Norden des Landes nicht oder nur selten zu erwerbenden Produkten stieg sprunghaft an. So schlossen sich Kaufleute und Händler zu einem Treck zusammen, der in unregelmäßigen Abständen zwischen den fünf Siedlungen hin und her pendelte. Da auf Gondwana keine Pferde mehr existierten (sie waren im Großen Krieg so stark dezimiert worden, dass die Art wenig später ausstarb), wurden nun Ochsen vor die Wagen gespannt.
Mit dem ersten Treck im Frühling des Jahres 614 erreichte der damals zehnjährige Lukas Eastley seine neue Heimat, das kleine Fischerdorf Stoney Creek am nordwestlichen Ende Avenors. Seinem entfernt verwandten Onkel, Kristers Vater, war dies von Anfang an nicht recht. Er sah sich gezwungen, den Jungen bei sich aufzunehmen und ließ seinen Unmut darüber bei jeder sich bietenden Möglichkeit an ihm aus.
Luke blieb nicht viel Zeit, sich in sich zu vergraben und den Tod seiner Eltern zu betrauern. Von der ersten Sekunde an sah er sich mit Arbeit überhäuft. Unmittelbar nach der Ankunft fand er sich bereits auf den Feldern beim Umgraben und Beackern des (teilweise noch gefrorenen) Bodens wieder. Schwere körperliche Arbeiten wie das Fahren mit dem Kuhgespann (anfangs noch unter Kristers Aufsicht) und das Beladen des Wagens gehörten schon früh zu seinen Aufgaben. Schon im ersten Herbst wurde ihm das Mahlen von Korn aufgetragen, eine überaus anstrengende Arbeit für einen noch nicht einmal elfjährigen Knaben. Steine fahren, Roden, Pflügen, Ernten und das Vieh hüten waren ebenso Teil seiner unerschöpflichen Pflichten wie das Umgraben von Torfmoor auf der Suche nach Sumpferz, das zu Roheisen geschmolzen wurde, einem überaus kostbaren und weit begehrten Material, das vor allem für die Produktion von Nägeln, Nieten und Werkzeugen Verwendung fand. Wahrscheinlich hätte der alte Anders Bergmark seinen ungewollten und ungeliebten jungen Anverwandten zu Tode schuften lassen, würden nicht hin und wieder Krister und dessen Mutter mäßigend eingegriffen haben.
Eines Abends im Spätherbst kehrte der Junge nicht nach Hause zurück. Die Nächte waren bereits empfindlich kalt, und als die Familie zum Abendessen zusammenkam, blieb Lukes Platz leer.
„Wo ist Lukas?“ erkundigte sich Kristers Mutter.
Es gehörte zu Anders Bergmarks Eigenschaften, die Fragen seiner Frau geflissentlich zu ignorieren, auch wenn sie wie in diesem Fall eindeutig an ihn gerichtet waren. Es bedurfte eines gewissen Nachbohrens, bevor aus ihm etwas herauszubekommen war.
„Was weiß ich, Ulla-Britt!“ knurrte er endlich genervt, einen frischen Brotlaib mit den Händen brechend.
„Hast du ihn nicht heute Vormittag zum Pilze sammeln losgeschickt?“ meldete sich Britt-Marie, Kristers jüngere Schwester, etwa in Lukes Alter.
„Du redest, wenn du gefragt wirst!“ Die autoritäre Stimme des Vaters und sein drohend auf sie gerichteter Zeigefinger ließen das Mädchen augenblicklich