„Schwer zu sagen“, meinte er dann. „Da die Schlechtwetterfront schnell herangekommen ist, tendiere ich dazu zu glauben, dass sie morgen früh auch wieder weg ist. Andererseits ist Dauerregen in dieser Jahreszeit keine Seltenheit.“
Sein Kopf rollte zur Seite und er sah müde herüber. „Ich hoffe auf ersteres. Hier womöglich tagelang festzusitzen trifft nicht gerade meinen Gusto.“
Damit war unsere kurze Unterhaltung beendet. Das beruhigende Geräusch des fallenden Regens ließ mich endlich hinüberdämmern.
Als ich hochschreckte, wusste ich zuerst nicht, wo ich mich befand. Ich hatte wieder wüst geträumt und ärgerte mich nicht mehr, aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Soweit war es also schon gekommen. Ich betrachtete meine nächtlichen Visionen bereits als normal. Natürlich stand Rob wieder im Mittelpunkt. Er war durch meinen Traum gerannt wie ein verfolgtes Tier, schwarze Tränen strömten aus seinen rot geäderten Augen.
Zuerst bewegte er sich über eine weite, grüne Ebene, driftete aber immer weiter in Richtung eines düsteren Forstes ab. Ich sah ihn rennen und spürte die Bedrohung, die von diesem Wald ausging. Warum lief er so unbeirrt darauf zu? Aus der Vogelperspektive überblickte ich die gesamte Landschaft, eine freundliche und helle Ebene, die bis an den Horizont reichte. Wieso in aller Welt verließ er sie und steuerte beharrlich auf diesen düsteren Wald zu? Ich rief ihm zu, er möge die Richtung ändern, nicht die Schatten suchen Doch je stärker sich meine warnende Stimme erhob, desto weiter entfernte ich mich von meinem Bruder wie ein von kräftigem Gegenwind zurückgeworfener Vogel, welcher sich gezwungen sah, den Kurs zu korrigieren. Ich verlor Rob aus den Augen, dann den Wald, dann die Ebene... und fand mich aus dem Traum gerissen wieder in der Realität ein.
Mein Körper zitterte vor Kälte.
Das Rauschen in den Ohren entpuppte sich als trommelnder Regen.
Ich weiß nicht, wie lange ich stumm in dieser Stellung verharrte, bis mir klar wurde, das Feuer wieder entfachen zu müssen, wollte ich nicht an Unterkühlung sterben. In der Finsternis überhaupt die Feuersteine zu finden stellte eine Herausforderung dar.
Eine Unendlichkeit später hatte ich es geschafft. Kleine Flammen züngelten hoch und machten sich gierig über einen Haufen trockener Zweige her, bevor sie sich allmählich durch dickeres Holz fraßen und endlich Wärme abgaben. Mehr und mehr Holz legte ich nach, bis die Hitze in der kleinen Höhle beinahe unerträglich wurde und auch die beiden Schlafenden nicht mehr fröstelten.
In jener Nacht tat ich kein Auge mehr zu. Ergriffen von meiner neuesten Vision, die ich nach langem Grübeln als Aufforderung wertete, Rob so schnell wie möglich aufzuspüren, bevor er sich in große Gefahr begab, saß ich hellwach neben dem Feuer und legte in regelmäßigen Abständen Holz nach.
Erst als die Dämmerung über einen bleifarbenen Horizont sickerte, schloss ich erschöpft die Augen.
Der neue Tag begann wie der alte geendet hatte. Die Sintflut der vergangenen Nacht war wieder in ein Nieseln übergegangen. In bedrückendem Einheitsgrau präsentierte sich der wolkenverhangene Himmel, was wenig auf einen baldigen Wetterwechsel hindeutete.
Als ich erwachte und das Lager verließ, brannte bereits wieder ein knisterndes Feuer. Krister und Luke waren dabei, das Boot zu kippen, das bis zur Hälfte mit Regenwasser vollgelaufen war. Ein wahrer Sturzbach ergoss sich aus unserem Gefährt. Wie stark es geschüttet haben musste!
„Guten Morgen!“ begrüßte ich meine Kameraden. Mit in die Hüften gestemmten Armen stand ich da und beobachtete das ablaufende Wasser.
„Scheiß Morgen“, erwiderte Krister, offensichtlich schlecht gelaunt. Luke sagte nichts. Er hielt das Boot ganz allein noch immer in der Schräglage.
„Ja, es regnet“, stellte ich fest.
Doch der Regen hatte nichts mit Kristers mieser Stimmung zu tun. Er war in das Kalkskelett eines im Sand verborgenen Seeigels getreten und hatte sich den rechten Fuß übel zugerichtet. Zwar war es ihm gelungen, die tückischen Stacheln aus dem Fleisch zu ziehen ohne sie abzubrechen, doch bluteten die tiefen Wunden ordentlich. Zum wiederholten Male schalt er sich einen Narren, auf Schuhwerk verzichtet zu haben.
„Kannst du laufen?“ fragte ich ihn.
Er knurrte nur etwas Unverständliches und humpelte zum Lager zurück. Bevor ich ihm folgte, half ich Luke dabei, das Boot wieder in seine normale Position zu bringen. Wohlwollend registrierte ich, wie umsichtig er alle drei Wasserbeutel bis zum Rand aufgefüllt hatte, bevor das kostbare Süßwasser auf Nimmerwiedersehen versickert war.
Während des Frühstücks sprachen wir kein Wort. Krister verarztete seine Wunde so gut wie möglich. Mit besohlten Füßen hinkte er nur noch ein wenig. Doch der angespannte Blick verriet ein wenig von den Schmerzen, die er empfinden musste.
Trotz des weiterhin fallenden Regens entschieden wir uns zum Aufbruch. Die trockene Wärme der kleinen Höhle gegen die kühle Nässe im Boot einzutauschen, bedurfte einiger Überwindung. Doch der Entschluss stand, es gab kein Zurück mehr. Wir ließen die kleine Bucht hinter uns und segelten hinaus auf die unruhige Tethys. Mit Hilfe des immer noch kräftig blasenden Westwindes nahm das Boot schnell Geschwindigkeit auf und trieb uns der nächsten Etappe entgegen: Kap Fol.
06 VAN DIEN
Im Laufe des Tages klarte es nach und nach auf. Ab Mittag fiel kein Regen mehr, und hier und da zeigte sich eine Sonne, die stetig an Kraft gewann. Ihre wärmenden Strahlen waren wie Balsam für unsere ausgekühlten Körper. Bald konnten wir uns trotz des munteren Westwinds der feuchten Klamotten entledigen. Die Stimmung an Bord hellte sich deutlich auf. Krister liebäugelte sogar wieder mit dem Auswerfen der Leinen, tat es dann aber doch nicht. Seine Hände waren vom gestrigen Kampf mit dem Karsar noch zu lädiert, um neue Herausforderungen anzunehmen.
Als wir Kap Fol passierten und Luke einen Ichthyon sichtete, Gondwanas furchterregendsten Raubfisch, hielt ich den Atem an. Groß war er, mächtig groß, schätzungsweise sechs oder gar sieben Meter lang. Und zum Glück ein gutes Stück vom Boot entfernt. Im Laufe meines Lebens hatte ich schon viele dieser grusligen Räuber der Meere gesichtet, doch war es immer wieder ein unheimliches Erlebnis. Der Anblick der dreieckigen Rückenflosse, die die Wasseroberfläche kräuselt und wie ein Messer durchschneidet, löst stets Unbehagen in meiner Magengegend aus.
Tödliche Angriffe von Ichthyonen auf Menschen kamen alle Jubeljahre vor, zumal sie vor der Küste Avenors oder auch in der December Bay verhältnismäßig selten anzutreffen sind. Dennoch gab es in Stoney Creek nicht einen einzigen Fischer, der noch nicht in Kontakt mit einem Ichthyon gekommen war. Sie tauchen immer dann auf, wenn man sie am wenigsten erwartet und können mit ihren bis zu zehn Metern Länge einem kleinen Fischerboot durchaus gefährlich werden. Unser Exemplar hier verlor schnell das Interesse und tauchte ab.
„So ein großes Tier siehst du nicht oft“, schwärmte Luke. „In Van Dien haben sie einmal einen ausgewachsenen Ichthyon harpuniert, der sich mit mehreren Booten angelegt hatte. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, auch wenn es viele Jahre zurückliegt. So etwas kriegst du nie mehr aus deinem Kopf.“
„Der hier war wohl nicht auf Ärger aus“, kommentierte Krister das Ereignis knapp. „Kap Fol liegt hinter uns. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Schlage vor, wir halten Ausschau nach einem Landeplatz.“
Ich brachte das Boot wieder näher an die Küste heran. Bald schipperte es endlosen Sandstränden entlang, die zum Verweilen einluden. Wir zögerten auch nicht lange und nahmen das Angebot an. Für die kommende Nacht rechnete ich keineswegs mit Regen, und so schlugen wir das Lager unter freiem Himmel gleich neben dem Boot auf. Treibholz fand sich in rauen Mengen, und schon loderte ein schönes Feuer empor. Mit dem Verschwinden der Xyn kühlte es empfindlich ab. Auch der Wind frischte erneut auf. Fröstelnd legten wir die wieder trockene Kleidung an, wickelten uns nach einem ausgiebigen Mahl in die Decken und schliefen noch vor Sonnenuntergang ein. Tag vier ging ohne weitere Vorkommnisse zu Ende.
Der neue Tag begann, wie der alte geendet hatte. Strahlendblauer Himmel, kräftiger Westwind.