„Heute Vormittag?“ Die Mutter suchte vergeblich den Blick ihres Sohnes. „Dann ist er ja schon viele Stunden draußen. Bei dem Wetter.“ Es hatte am späten Nachmittag zu regnen begonnen, der teilweise in Graupel übergegangen war.
Krister nickte und zuckte dann hilflos mit den Achseln.
„Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?“
Anders Bergmark ließ den Löffel in die geleerte Suppenschale fallen. „Pah, der Junge ist alt genug. Was soll ihm denn zustoßen? Und wenn – wen interessiert es wirklich? Ein unnützer Esser weniger!“
Die Tatsache, dass sich Luke sein Essen schwer verdiente, fiel nicht sonderlich ins Gewicht. Die Familie aß weiter, als sei nichts geschehen. Nach der Mahlzeit jedoch zögerte Ulla-Britt Bergmark nicht länger. Sie nahm ihren Ältesten zur Seite.
„Ich gehe jede Wette ein, dein Vater hat ihm befohlen, es nicht zu wagen, mit leeren Händen heimzukommen. Jetzt noch Pilze zu finden, grenzt fast an ein Wunder. Ich habe Angst um Lukas. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt wie der armen Augusta Johansson.“
Der tragische Verlust der vierzehnjährigen Augusta im letzten Herbst reihte sich nahtlos in die Liste der inzwischen dreiundzwanzig Menschen ein, die in den vergangenen Jahrzehnten auf mysteriöse Weise spurlos aus Aotearoa verschwunden waren. Meistens handelte es sich um Kinder oder Halbwüchsige, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr nach Hause zurückkehrten. Nicht einer der Verschwundenen war je wieder aufgetaucht oder irgendwo gesehen worden. Sie waren fort, als hätte die Erde sie verschluckt. Groß angelegte Suchaktionen blieben erfolglos. Nun existieren in Aotearoa keine wilden Landtiere, die einem Menschen hätten gefährlich werden können und denen man die Schuld zuweisen konnte.
Mit jedem Verschwinden steigerte sich die Fassungslosigkeit in der Bevölkerung, legte sich aber letzten Endes wieder. Irgendwann gewöhnte sich Aotearoa daran, ein bis zweimal pro Jahr den Verlust eines jungen Menschen beklagen zu müssen.
Beunruhigend blieb die unheimliche Regelmäßigkeit, mit der das Unfassbare zuschlug. Selbst bewaffnete und wehrhafte junge Männer wie der im Spätsommer 620 bei Cape Travis verschwundene, siebzehnjährige Annachie Brennain, tauchten nie wieder auf. Lediglich seine Jagdwaffe, einen Skinner, fand man auf dem feuchten Waldboden einer Lichtung am Nordhang des Monteskuro. Keine Spuren eines Kampfes oder einer Auseinandersetzung, kein Blut, nichts. Der Vater des Verschwundenen beharrte darauf, dass sein Sohn sich niemals freiwillig von seinem Messer getrennt hätte. Es musste ihm also körperliche Gewalt angetan worden sein. So sehr der Vater auch suchte, er fand seinen Sohn nicht wieder.
Auffällig blieb, es handelte sich stets um junge Menschen. Keiner der Verlorengegangenen war älter als zwanzig Jahre alt gewesen. Zudem schien sich das beängstigende Phänomen von Süd nach Nord vorzuarbeiten.
Kurze Zeit nach der Wiederbesiedlung von Willer im Jahre 578 ereigneten sich die ersten Fälle. Gab es wilde Tiere im Staten Forest oder im Zentralmassiv, von denen man nichts oder nichts mehr wusste? Blutrünstige Bestien, die im düsteren Wald ahnungslosen Sammlern oder Jägern auflauerten? Waren es gar Opreju, die bis nach Ergelad oder Otago vordrangen, um Jagd auf Menschen zu machen?
Theorien dieser Art ließen sich allerdings nicht lange halten. Die Opreju, die es nachweislich gab (wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Aotearoa) oder die imaginären Raubtiere, deren Existenz niemand beweisen konnte, hätten Spuren hinterlassen. Spätestens an dem Ort, an dem sie ihre Opfer töteten. Spuren fanden sich aber nicht.
Sieben Jahre später verschwanden die ersten Menschen aus Lake Sawyer, dann aus Van Dien und schließlich Cape Travis. Stoney Creek, die abgeschiedene Siedlung am nordwestlichen Ende Avenors, wurde zuletzt heimgesucht, zum erstenmal im Sommer des Jahres 607. Von da an mit der gleichen Regelmäßigkeit wie anderswo. Auch hier handelte es sich stets um Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene. Keiner der Fälle war je aufgeklärt worden, nie hatte es irgendwelche Zeugen gegeben, das im Grunde Beunruhigende an der ganzen Sache. Der Tod schien aus heiterem Himmel zuzuschlagen. Die Angst ging seit 607 auch in Stoney Creek um. Angst um die Söhne und Töchter der kleinen verwundbaren Siedlung.
Diese Befürchtungen gingen auch Ulla-Britt Bergmark an jenem Abend durch den Kopf. Das ganze Jahr über war Stoney Creek bisher verschont geblieben. Die Vermutung, dass es wieder einmal an der Zeit sei, lag nahe.
„Ich gehe ihn suchen“, erklärte sich Krister bereit.
„Alleine?“
„Weit kann er nicht sein. Ich finde ihn.“
Wie sich herausstellte, war Luke in der Tat nicht weit. Das halb gefüllte Weidenkörbchen in beiden zitternden Händen haltend, kauerte er unter der Weide am Entenstall. Bis auf die Haut durchnässt und mit den Zähnen klappernd fand Krister den unglücklichen und völlig verängstigten Jungen vor. Er hielt ihm die zischende und prasselnde Fackel unter die Nase. Luke schreckte vor der plötzlichen Hitze und dem grellen Licht zurück.
„Du kleiner Idiot.“ In den Worten lag mehr Mitgefühl als sie erahnen ließen.
Luke sah aus dunklen, regennassen Augen zu ihm auf.
„Komm, steh auf. Du hast genug getan für heute.“ Krister nahm ihm das Weidenkörbchen ab und zog den Jungen am rechten Arm hoch. „Hey, wo hast du all die Pilze gefunden?“
„Drüben am Eisbach.“ Lukes Zähne schepperten Mitleid erregend aufeinander.
„Das sind mehr als genug. Warum bist du nicht reingekommen? Mutter macht sich Sorgen.“ Doch Krister kannte die Antwort, noch bevor sein bebender Stiefbruder sie in Worte fasste.
Luke sah ihn wieder einmal mit den flehenden Augen eines tollpatschigen Welpen an, der wusste, einen Fehler begangen zu haben, welcher sich nicht hatte vermeiden lassen. Wie oft hatte er diesen Ausdruck schon gesehen und seinen Vater dafür verachtet!
„Ich hatte den Auftrag, den Korb ganz zu füllen“, flüsterte Luke mit gesenktem Blick.
Krister stöhnte.
„Na gut, jetzt komm ins Haus. Du bist ja halbtot vor Kälte.“
An diesem Abend hatte Krister beschlossen, nicht nur spätestens im Frühjahr mit dem Bau seiner eigenen Hütte zu beginnen, sondern auch Luke bei sich aufzunehmen. Um das Martyrium seines Stiefbruders zu erleichtern, weihte er ihn früh in diese Pläne ein. Von diesem Moment an blühte der Junge auf. Er war nicht mehr wiederzuerkennen. Egal welche Arbeiten ihm sein Stiefvater auftrug, er erledigte sie ohne Widerspruch, doch schien der herbste Stachel des Schmerzes gezogen. Innerlich wie äußerlich lächelnd ertrug er jedwede Demütigung, was Anders Bergmark zur Raserei brachte.
Zur Eskalation kam es, als Luke an einem unglückseligen Wintermorgen beim Melken einen Kübel frisch gemolkener Milch im eiskalten Viehstall umstieß. Die dicke weiße Brühe ergoss sich über den gefrorenen Stallboden wie zähflüssige Farbe. Nun verfügten die Bergmarks nur über eine einzige, zudem betagte Kuh, die nicht mehr viel Milch gab. So ließ sich der Vorfall nicht verbergen, denn so sehr er sich auch bemühte, aus dem Euter der alten Mukka bekam er keinen Tropfen mehr heraus. Auch der Versuch, bei einem Nachbarn Ersatz zu besorgen, scheiterte. Luke verfügte über nichts, was er gegen die kostbare Milch hätte eintauschen können, und mitten im Winter teilte niemand etwas, wenn es nicht unbedingt sein musste oder es keinen entsprechenden Gegenwert dafür gab.
Als der Vater abends vom Eisfischen zurückkehrte und keine Milch auf dem Tisch vorfand, nahm das Drama seinen Lauf. Zur Rede gestellt, suchte Luke einen Augenblick zu lange nach einer Entschuldigung für sein Missgeschick. Es klang wie ein Peitschenknall, als der Handrücken von Anders Bergmark quer über das Gesicht seines Stiefsohnes zog.
„Anders!“ Der entsetzte Ruf der Mutter und das unterdrückte Schluchzen seines Stiefbruders ließen in Krister etwas zerbrechen. Lukes