Doch mit Robs Verschwinden sah alles anders aus. Jetzt forderten die Umstände einen Bruch des Tabus, was in unserem Fall das Durchqueren der Fisk Bay und die Einfahrt in den östlichen Zadarkanal bedeutete. Damit würden wir uns in den Gewässern Laurussias befinden, also faktisch auf dem Territorium der Opreju. Was dort wartete, konnte niemand sagen. So war es ganz angenehm, die unterschwellige Furcht vor dem Unbekannten wenigstens eine Zeitlang in bittersüßem Korma zu ertränken.
Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Durchaus möglich, dass wir bereits mehrere Stunden in dem Wirtshaus verbrachten. Das Korma schmeckte einfach zu gut. Die Läden waren bereits geschlossen worden und verwehrten den Blick nach draußen. Es war sicherlich schon dunkel.
„Jetzt nehmen wir noch einen Schluck in der Taverne.“ Krister hatte zwar schon gewaltig gebechert, stand aber auf sicheren Füßen, als er der Wirtin die beiden Schwarzperlen in die Hand drückte. „Danke, Frau Wirtin. Es war köstlich!“
Dann beugte er sich nach vorne und drückte der überraschten Frau einen dicken Kuss auf die fleischige rosa Wange. Wenigstens hier zeigte sich deutlich, dass er bereits einen in der Krone hatte. Die massige Wirtin errötete und fing an zu kichern wie ein Backfisch. Das halbe Wirtshaus beobachtete den Vorgang und verfiel in röhrendes Gelächter.
„Hey, Emma, was hast du dem Kerl ins Essen gemischt?“ grölte ein nicht mehr ganz nüchterner Gast. „So was will ich auch haben, dann klappt’s vielleicht wieder mit meiner Alten!“
Noch mehr ausgelassenes Gelächter. Ich packte Krister am Arm und zerrte ihn nach draußen, bevor er noch ganz und gar über die Wirtin herfiel. Er protestierte lautstark und riss sich los. Ich musste lachen als er entrüstet rief: „Glaubst du ich bin schon so besoffen, dass ich nicht mehr zwischen Fleisch und Fisch unterscheiden kann?“
„Schlimmer“, warf Luke ein. „Du solltest dich mal selber sehen!“
„Du hältst schön die Futterluke“, wies Krister den jüngeren Stiefbruder zurecht. „Wenn dir was nicht passt, kannst du dich gerne ins Bett begeben! Frag doch Amny, ob sie dich zudeckt!“
„Er gehört jetzt ganz dir, Jack!“ Luke nickte mir kurz zu und machte sich ohne noch einmal umzuschauen auf den Weg ins Mataki.
„Was glaubt er eigentlich, wer er ist?“ empörte sich Krister weiter.
„Jemand, der Recht hat“, sagte ich leise. Aber aus unerfindlichen Gründen stimmte ich einem letzten Krug Korma zu, womöglich weil es unhöflich gewesen wäre, Grünauges Einladung abzuschlagen.
Nicht mehr ganz Herr aller Sinne marschierten wir die Straße hinunter in Richtung der Landungsstege. Mein Kopf fühlte sich an wie in mehrere Lagen Watte gepackt. Durchaus angenehm, keine Frage! Wir hörten das Grölen lange bevor wir die Taverne erblickten. Halb hoffend, dass Finn bereits gegangen war, traten Krister und ich ein. Aber da saß er immer noch, am selben Tisch, und hatte uns auch sofort gesehen.
„Sieh einer an, unsere Fremden sind wieder hier!“ Der merkwürdige Klang in der Stimme verriet den hohen Alkoholgehalt in seinem Blut. „Hey, Wirt! Noch zwei Korma für unsere Freunde aus dem Westen!“
Wir zogen zwei Stühle heran und setzten uns. So schnell wurde man in Van Dien also von einem Fremden zu einem Freund. Es wollte mir nicht gefallen. Ich beschloss, dem Ganzen schnell eine Richtung zu geben.
„Danke für die Einladung und die freundliche Empfehlung. Das Mataki ist wirklich ein ausgezeichnetes Gästehaus...“
„Und Amny? Wie findest du Amny?“ fiel mir Finn ins Wort. Er sah mich erwartungsvoll an wie ein Kind, das glaubte, etwas ganz Schlaues gesagt zu haben. In seinen Mundwinkeln klebten eingetrocknete Schaumreste.
„Nun, Amny ist...“
„Sie ist ein Juwel, stimmt’s? Ich wusste, sie gefällt dir. Aber wage es nicht, sie anzurühren, verstehst du? Sie ist meine Verlobte, musst du wissen!“
Ich sehnte mich auf unser Boot zurück oder zumindest in die abgeschiedene Ruhe des Gästehauses.
„Du kannst ganz unbesorgt sein“, entgegnete ich kühl.
Der Wirt knallte mit Vehemenz zwei Steinkrüge auf den Tisch. Las ich Ablehnung in seinen missbilligenden Augen?
Krister nahm einen Krug, leerte ihn in einem einzigen Zug und ließ das Gefäß dann mindestens ebenso lautstark auf den Tisch krachen. Dann verkündete er: „Nochmals vielen Dank für die Einladung. Aber wir müssen los, morgen geht es in aller Frühe weiter.“
„Nicht so schnell, Freunde!“ warf Finn ein. „Ein paar Minuten eurer kostbaren Zeit müsst ihr uns schon noch schenken! Einen kleinen Schwatz könnt ihr uns nicht abschlagen, oder? Was gibt es neues im Westen?“
„An welche Art Neuigkeiten denkst du?“
Finn zuckte mit den Achseln. „Mann, muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Hat der Winter auch so getobt wie hier?“
„Wir hatten einen strengen Winter, oh ja. Meterhoher Schnee. Heftige Stürme. An manchen Tagen war es besser, das Haus nicht zu verlassen.“
Finn nickte beipflichtend. „Wir hatten hier mächtig Windwurf und Schneebruch. Und eine Sturmflut. Ich sage euch, hier sah es aus, als wären Opreju brandschatzend durch die Stadt gezogen.“
Da war er also gefallen, dieser elektrisierende Name. So wie es aussah, gehörte er hier zum Sprachgebrauch, ganz anders als zu Hause. Meine Nackenhaare erhoben sich als ich fragte: „Hat jemand von euch hier schon einmal einen Opreju gesehen?“
Verlegene Gesichter. Ein älterer Mann mit schneeweißem Bart, welcher beinahe sein ganzes Gesicht verdeckte, sagte schließlich mit tiefstem Bass in der Stimme: „Ich kenne niemanden, der einen Opreju gesehen und überlebt hätte. Wieso fragst du?“
Jetzt war Vorsicht angesagt. Das Gespräch drohte in eine ganz falsche Richtung zu gehen.
„Nur so aus Interesse“, wiegelte ich ab.
Grünauge sah mich aus halb geschlossenen Lidern an.
„Ihr kommt aus Stoney Creek, sagt ihr? Eins verstehe ich nicht. Ihr seid erst heute Nachmittag angekommen und wollt morgen schon wieder aufbrechen? Das ist ungewöhnlich. Wohin führt euch eure Reise, wenn ich fragen darf?“
Oh ja, definitiv in die ganz falsche Richtung. Mir wurde bewusst, darauf keine passende Antwort zu haben. Es musste natürlich verdächtig aussehen, die anstrengende Reise von Stoney Creek nach Van Dien gemacht zu haben und nur eine Nacht lang zu verweilen.
„Rein persönliche Gründe“, antwortete Krister, der mein Zögern bemerkte.
Finn sah ihn ungläubig an.
„Wir haben Nordwestwind, das wird kein Zuckerschlecken. Wollt ihr nicht günstigere Winde abwarten?“
„Würde mich nicht wundern, wenn der Wind heute Nacht dreht“, entgegnete Krister gewandt. „Keine Seltenheit in dieser Jahreszeit.“
„Wo steckt denn euer junger Begleiter?“ meldete sich ein schmächtiger Kerl zu Wort, der der ganzen Unterhaltung bisher mucksmäuschenstill gefolgt war. Er durfte in seinen späten Dreißigern sein. Die ungeheuer lange Nase, ein wahrer Gesichtserker, verlieh ihm ein groteskes Aussehen.
„Mein