Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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      Luke stand breitbeinig da, bereit zum tödlichen Stoß. Jeden Augenblick musste der Karsar am Haken hängend auftauchen, die nun wieder gespannte Leine verschwand nur gute zwei Körperlängen entfernt in der wogenden See. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln.

      Krister startete den finalen Angriff und zog brutal an. Diese Aktion musste dem Karsar heftige Schmerzen bereitet haben, womöglich hatte der messerscharfe Haken seine Eingeweide aufgefetzt. Ein gewaltiger Ruck ging durch die Leine, als zöge ein wildgewordener Ochse am anderen Ende. Krister wurde nach vorne gerissen. Glücklicherweise hatte er sich nicht mehr die Mühe gemacht, die letzten Meter der eingeholten Leine um den Körper zu wickeln, er wäre sonst unweigerlich über Bord gegangen. So gelang es ihm, sich am Bootsrand abzufangen und die Leine zu sichern. Der Karsar bot noch einmal alles auf, was er an Kraftreserven zu bieten hatte.

      In Kristers Augen spiegelte sich pure Entschlossenheit wider, das Tier koste es was es wolle zur Strecke zu bringen. Ein Anblick, der mir weit weniger gefiel. Unter normalen Umständen würde ich der letzte gewesen sein, der diesem Kampf aus dem Weg gegangen wäre. Allerdings befanden wir uns zwei Tagesreisen von zu Hause entfernt. Mir stand nicht der Sinn nach Umkehren, um einen verletzten Krister verarzten zu lassen. Nicht auszudenken, in welcher Lage wir uns befänden, sollte es dem riesigen Fisch gelingen, den Spieß umzudrehen, seinen Jäger ins Meer zu zerren und dort mit seinen tödlichen Falchions zu durchbohren. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas geschah.

      Ich spielte bereits mit dem Gedanken, die gespannte Fangleine eigenmächtig zu durchtrennen, schreckte aber davor zurück. Der Rückschlag eines derart unter Spannung stehenden Strangs konnte durchaus gefährlicher sein als der Riese am anderen Ende.

      Doch dann löste sich das Problem auf ganz andere Weise. Die Leine entspannte sich unvermittelt, was eigentlich nur bedeuten konnte, dass der wieder untergetauchte Karsar Kurs auf das Boot nahm. Da er einige Meter Leine gewonnen hatte, war dies durchaus möglich. Vielleicht befand er sich direkt unter unserem Boot und strebte langsam der Wasseroberfläche entgegen, bereit sich zum letzten Duell zu stellen. Wir standen da und warteten, was geschehen würde.

      Hatte schon jemals ein angeschlagener Karsar ein Fischerboot attackiert? Viele Geschichten fielen mir ein, von denen ich die meisten getrost als Seemannsgarn abtun konnte. Mit seinen mächtigen Falchions durfte ein Karsar sehr wohl in der Lage sein, einen Menschen aufzuspießen. Ein Boot ernsthaft zu beschädigen oder gar zum Kentern zu bringen, traute ich ihm jedoch nicht zu.

      Die Spannung stieg, und auch mich ergriff wider besseres Wissen die pure Jagdwut. Das Tier hatte sich entschlossen, den Kampf zu Ende zu bringen, eine Situation, die sich nur schwer beschreiben ließ. Die Gesetze der Vernunft waren ausgeschaltet, jetzt galt es einzig und allein, das Biest zu erledigen.

      Eine weitere Minute verstrich – nichts passierte.

      Krister hatte wieder damit begonnen, Leine einzuholen und hielt schließlich ungläubigen Blickes das abgetrennte Ende in seinen wunden Händen. Keine Spur mehr von dem kapitalen Karsar, der eben noch an seinem Haken gehangen hatte. Dem Fisch war es tatsächlich gelungen, den Strang, der ihn gefangen hielt, zu kappen. Krister realisierte, was vorgefallen war und fluchte beinahe mitleiderregend. Nicht nur hatte er sich blutige Pfoten eingefangen, nein, auch sein kostbarster Angelhaken war auf Nimmerwiedersehen entschwunden. Übel gelaunt holte er wortlos die restlichen Fangleinen ein und spülte seine Wunden anschließend gründlich mit Meerwasser.

      „Sind deine Hände in Ordnung?“ fragte ich ihn besorgt. Mein Jagdfieber war so schnell verschwunden, wie es mich gepackt hatte.

      „Ach, nur ein paar Kratzer.“

      „Lass mal sehen!“

      Er sah mich an wie einen Wahnsinnigen. „Ich dachte eigentlich, meine Mutter hätten wir zuhause gelassen!“

      Ich musste wider Willen grinsen. Krister schüttelte verständnislos den Kopf und widmete sich missmutig der geschundenen Ausrüstung.

      Seine Stimmung hob sich erst wieder, als wir Kap Longreach erreichten. Die Aussicht auf die bevorstehende Jagd auf Stamarinas ließ ihn schon wieder lächeln. Auf sein Geheiß hin rückten wir nahe ans Festland heran. Das Donnern der Brandung nahm stetig zu. Wir segelten in sicherem Abstand und doch so nahe wie möglich die Felsenküste entlang, um unser Ziel nicht zu verpassen. Die Zufahrt in die versteckte Lagune war nach Kristers Worten nicht einfach zu finden und auch für das geübte Auge nur allzu leicht zu übersehen.

      „Da ist sie! Da ist die Passage!“

      Luke und ich glotzten uns die Augen aus dem Kopf, konnten aber beim besten Willen nichts erkennen.

      „Wo denn?“

      „Tja, meine Lieben, wie ich bereits sagte, die geheime Zufahrt kennen nur wenige. Und von hier aus sieht man sie auch noch nicht. Es ist die Formation der Felsen, die mir etwas sagt. Hinter diesen beiden hier, von denen der eine aussieht wie eine auf die Seite gedrehte Schildkröte, die mit den Beinen rudert? Seht ihr? Gut verborgen, nicht wahr? Wer nicht genau weiß, dass sich dahinter ein Geheimnis verbirgt, würde achtlos vorbeiziehen.“

      Ich nickte zustimmend. Nichts, rein gar nichts ließ dies vermuten.

      Wir hielten auf den Schildkrötenfelsen zu und änderten den Kurs nach steuerbord. Eine kleine Bucht öffnete sich, in die wir langsam hineinsegelten. Der Wellengang ließ nach. Noch immer keine Spur von dieser mysteriösen Durchfahrt. Ich fragte aber auch nicht danach. Krister wusste offenbar, wo sie sich befand, und ich konnte abwarten. Wir durchkreuzten die Bucht, uns dabei streng an ihrem Ostrand haltend.

      Krister ließ das Segel fallen. Die enge Passage durch den Kanal, die er bereits mehrere Male gemeistert hatte, lag nun direkt vor uns. Aus dem Nichts war sie aufgetaucht. Steile Felsen ragten zu beiden Seiten empor. Tausende von Seevögeln schwebten kreischend über uns, stießen sich von ihren Nistplätzen ab und tauchten pfeilschnell in die See ein, um wenige Sekunden später mit erbeuteten Fischen, die in ihren Schnäbeln silbrig schimmernd zappelten, aufzutauchen und erneut in die Lüfte zu schnellen. Wir hatten wenig Augen für die Tierwelt um uns herum. Es galt, das Boot sicher durch die Durchfahrt zu bringen.

      „Wir müssen vorsichtig sein“, warnte Krister. „Die Passage ist an manchen Stellen außerordentlich schmal und ab und an herrscht kräftige Strömung. Wir müssen rudern und das Boot wenn nötig mit Hilfe der Paddel von den Felsen fernhalten.“

      Ich ergriff das zweite Ruder und machte mich an die Arbeit. Luke stand am Bug und hielt Ausschau nach tückischen Unterwasserfelsen. Wir ruderten vorsichtig in den Kanal hinein. Das Donnern der Brandung nahm zu. Auch das ohrenbetäubende Geschrei der Seevögel steigerte sich zu einem wahren Stakkato. Das Boot begann hin und her zu schaukeln.

      „Nach Backbord!“ rief Luke plötzlich. „Felsen voraus!“

      Mit einigen kräftigen Ruderschlägen manövrierten wir das Boot wie geheißen und näherten uns gefährlich nahe der schroffen Wand des Schildkrötenfelsens. Nur drei Meter – wenn nicht weniger – schmatzendes und gurgelndes Wasser befanden sich zwischen ihm und einer Kollision mit ungewissem Ausgang. Ich spürte kalten Schweiß auf der Stirn.

      „Die Stelle kenne ich“, meinte Krister mit ruhiger Stimme. „Aber keine Sorge, wir haben Flut, der Kanal ist tief genug.“

      Ich lächelte schwach, vertraute ihm jedoch voll und ganz. Wäre die Durchfahrt zu problematisch, würde Krister sie niemals angehen. Dennoch wurde meine Zuversicht wenig später erschüttert.

      Den gefährlichen Felsen, der nur wenige Zentimeter aus dem Wasser geragt hatte hinter uns lassend, versuchten wir wieder in die Mitte des Kanals zu gelangen, als eine kräftige Welle das Boot unerwartet anhob. Das Heck brach sofort nach backbord aus, und schon stellten wir uns inmitten des engen Kanals quer. Fluchend steuerten Krister und ich gegen, doch war es bereits zu spät. Bösartig knirschend schlug das Heck gegen die Felsen. Holz splitterte. Zudem schrammte die Unterseite irgendwo entlang. Das schleifende Geräusch tat mir körperlich weh. Ich hakte das Ruder waagrecht in den Fels und drückte mit aller Kraft dagegen, um wieder Abstand zu gewinnen. Ächzend und stöhnend und mit Hilfe einer neuen Woge hob sich das Boot, gewann an Auftrieb und