„Aber natürlich – kein Problem.“ Und lächelnd setzte er hinzu: „Ich würde mich auch lieber von einer attraktiven Dame fahren lassen, als von einem anderen Beamten.“
2005 - In der Wüste weit vor Alessia - Auf dem Weg zurück
Taib beschloss, sich in Zukunft mit öffentlichen Beleidigungen zurückzuhalten. Er hatte Rayan provozieren wollen, nicht aber dessen Männer.
Was nämlich keiner wusste, war, dass der Anwaltsgehilfe trotz seines Deliriums einige Gespräche mitbekommen hatte. Leider manche nur teilweise, sodass er nicht alles richtig verstanden hatte. Das hatte ihn negativ geprägt:
Unter anderem hatte er ein Gespräch zwischen Ibrahim und Rayan belauscht, als diese außen vor dem Zelt darüber diskutiert hatten, ob sie das Lager aus Sicherheitsgründen nicht besser an einen anderen Ort verlegen sollten. Rayans Antwort: „Wir müssen damit warten, bis er wieder bei Kräften ist“, hatte er noch geschockt von seinen Misshandlungen so interpretiert, dass man ihn, sobald er fit genug war, erneut verkaufen wolle.
Weiterhin hatte einer der Tarmanen in der darauffolgenden Nacht eine ihrer obersten Regeln gebrochen: er war beim Wachdienst eingeschlafen. Und das in der Phase, als sie fast stündlich mit einem Angriff der Männer von Mahmoud rechnen mussten. Dafür gab es nur eine Strafe: zwölf Peitschenhiebe. Diese Bestrafung noch halb im Delirium mitzuerleben, war für Taib wie ein Trauma: Mit jedem Pfeifen des Leders und jedem Klatschen fühlte er sich, wie in seinen Albträumen gefangen, denen er eigentlich gehofft hatte, entronnen zu sein. Ein weiterer Grund, Rayan mit dem Sklavenhändler Mahmoud auf eine Ebene zu stellen.
Und letztendlich hatte er zuvor noch nie von ihm gehört und kannte daher dessen Geschichte nicht. Somit ging er ganz natürlich davon aus, dass der Scheich, als reicher Mann und Prinz geboren, seine Probleme zu lösen pflegte, indem er die Menschen kaufte. Denn nur so hatte er wohlhabende Menschen bisher wahrgenommen. Genau, wie Saras Studentenfreunde Taib verurteilt hatten, nur weil er auf der Straße aufgewachsen war, hatte auch er seinerseits gegenüber Männern mit Macht und Geld Vorurteile.
Als Rayan sich dann am Krankenbett im Zelt leise mit dem Heiler Ismael über das Ausmaß der Wunden auf Taibs Rücken unterhielt, wobei beide der Meinung waren, der Patient würde schlafen, erzürnte sich Taib über die folgende Aussage: „Er hat viel Glück gehabt, die meisten Striemen werden mit der Zeit vergehen. Er wird so gut wie keine Narben für immer zurückbehalten.“ Glück?! Was für eine Arroganz! Was wusste dieser Kerl schon von seinen Schmerzen, die er hatte erleiden müssen? Den Schock, dass er nun sein Leben lang Narben tragen würde, auch wenn es nur „einige wenige“ waren, versuchte er durch Wut auf Rayan zu verarbeiten. Wie konnte so ein reicher Sack, der noch nie in seinem Leben gearbeitet hatte, auch nur ansatzweise verstehen, wie es war, zukünftig so zu leben? Er dachte mit Erschauern daran, dass er kaum noch ins öffentliche Bad würde gehen können. Und was würden Frauen sagen, wenn er sich auszog? Würde es sie abstoßen?
Taib hatte es in seinem Leben nie leicht gehabt. Er hatte sich mühsam selbst aus der Gosse bis zum Anwaltsgehilfen hochgearbeitet. Selbst Lesen und Schreiben hatte er sich mit viel Durchhaltevermögen selbst beigebracht. Nie hatte ihm dabei jemand freiwillig geholfen, bis er auf den Anwalt Raschid Aziz getroffen war. Daher war sein Motto, dass man sich Erfolg selbst erarbeiten musste und nur sich selbst vertrauen konnte.
Rayan dagegen hatte nach dem Gespräch jegliche Lust verloren, seinen Gast zu bekehren. Es war ein Moment, in dem er es bereute, sich und vor allem das Leben seiner Männer für diesen undankbaren Menschen eingesetzt zu haben. Aber er hatte es Leila versprochen, die ihrerseits unbedingt erfahren wollte, was mit ihrer Freundin Sara passiert war.
Immerhin konnten sie am Tag nach dem offenen Gespräch in der Einsamkeit der Wüste endlich aufbrechen. Rayan beruhigte sich damit, dass er ihn nach Alessia zurückbringen würde und danach hoffentlich nie wiedersehen müsste.
Die kommenden Tage verliefen ereignislos. Allerdings wurde Taib zunehmend unsicherer, ob er dem Scheich nicht vielleicht doch Unrecht getan hatte. Denn je besser es ihm körperlich ging und je mehr Tage verstrichen, umso mehr erholte sich auch sein Geist von den Strapazen. Und er begann, die deutlichen Unterschiede zu seinem Entführer wahrzunehmen.
Die Tarmanen pflegten einen kameradschaftlichen Umgangston miteinander. Der ein oder andere machte auch gerne einmal einen Witz, man lachte viel. So etwas hatte es bei Mahmoud nicht gegeben. Dessen Männer hätten sich gegenseitig nachts beklaut und ermordet, wenn sie auch nur einen kleinen Grund dafür gesehen hätten. Das ständige Misstrauen und Sich-Belauern war unübersehbar gewesen. Unter Rayans Kriegern jedoch, half man sich gegenseitig, wo man konnte.
Schließlich konnten sie am fünften Tag nach ihrem Aufbruch endlich Alessia vor sich sehen. Taib fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte nicht gedacht, seine Heimat noch einmal wiederzusehen. Am Stadtrand ließen ihn die Tarmanen seiner Wege gehen. Einfach so! Der Gerettete konnte sein Glück kaum fassen. Also hatte dieser Scheich doch keine hinterlistigen Ziele verfolgt. Dankbar und ein wenig verlegen wendete er sich seinen Rettern zu, doch sowohl Rayan als auch Ibrahim waren bereits grußlos davongeritten. Er winkte noch einmal einigen der anderen Krieger zu, dann machte er sich auf den Weg in eine Wohnung.
So sehr ihm der Tod Saras noch immer naheging, er freute sich doch, morgen Raschid Aziz wiederzusehen.
02.02.2015 - München: Weg zum Flughafen - Die Wiedergutmachung
Eine ganze Weile fuhren sie wortlos in Richtung Flughafen. Wenn Miriam über Rayans Bitte, dass sie diejenige sei, die ihn dorthin fahren sollte, überrascht gewesen war, so ließ sie sich das nicht anmerken.
Was Rayan aber durchaus merkte, war, dass sie verärgert war. Und auch ein wenig nervös, fast ängstlich. Er konnte beide Gefühle verstehen.
Plötzlich nahm Miriam ihren Mut zusammen und bemerkte mit ironischem Unterton: „Eigentlich ist es verwunderlich, dass Sie mir überhaupt zutrauen, dass ich einen Führerschein habe und zum Führen eines Fahrzeugs fähig bin.“ Und noch ein wenig bissiger fügte sie hinzu: „Oder haben Sie um mich als Fahrerin gebeten, weil Sie gehofft hatten, mich damit noch weiter bloßzustellen?“ Sie hatte bewusst mit ihm Arabisch gesprochen, obwohl sie inzwischen wusste, dass er durchaus auch Englisch sprach. Aber die Sprache ihrer Heimat war ihr geläufiger als ihr Schulenglisch.
Mit ihrer Bemerkung spielte sie auf die Tatsache an, dass es in Saudi Arabien Frauen nicht gestattet ist, Auto zu fahren. Geschweige denn, dass eine Frau der Arbeit als Polizistin hätte nachgehen dürfen.
Rayan schaute sie offen von der Seite her an. „Ich habe darum gebeten, dass Sie mich fahren, weil ich mich bei Ihnen entschuldigen wollte.“
Überrascht riss sie einen Moment den Blick vom Verkehr los und sah ihn zweifelnd an. Hatte sie soeben richtig gehört? Er hatte sich bei ihr entschuldigt?! Das konnte sie kaum glauben, so wie er sie bisher behandelt hatte. War es eine Finte von ihm? Ein weiterer perfider Versuch, sich über sie lustig zu machen? Da sie nicht wusste, was sie davon halten sollte, schwieg sie.
Als Rayan bemerkte, dass sie nichts sagen würde, fuhr er fort: „Das Ganze vorhin war ein Spiel, das überhaupt nichts mit Ihnen zu tun hatte. Ich musste meinem Sohn und meinen Männern Zeit verschaffen, das Land zu verlassen. Aus diesem Grund habe ich nicht nur Sie, sondern auch den guten Kommissar vorgeführt. Ich hätte ihm nur direkt im Park meinen Namen nennen müssen und schon hätte er mich gehen lassen müssen. Doch dann hätte man mir auch dort bereits die Fragen nach meinen Begleitern gestellt. Und womöglich wäre die Idee aufgekommen, meinem Jet den Abflug in München zu verbieten. So aber wusste niemand, dass ich nicht selbst an Bord bin …“, er beobachtete ihre Reaktion.