Er hatte sich richtig in Rage geredet und war laut geworden. Im Gegensatz dazu übersetzte Miriam die Worte ruhig, aber fast wortgetreu.
Rayan lächelte kalt. Ein Lächeln, das sanft seine Mundwinkel umspielte, aber nicht bis in seine Augen gelangte, die ihr kaltes Glitzern nicht verloren hatten. Es entging ihm nicht, dass Miriam fröstelte. Zumindest sie schien sich seiner Ausstrahlung nicht entziehen zu können. Sie war klug genug zu spüren, dass nun Vorsicht geboten war.
Gefährlich sanft und dabei mit einem Tonfall, der verriet, dass er keinerlei Gewissensbisse hatte, einen anderen Mann, wenn es sein musste, zum Tode zu verurteilen, antwortete Rayan: „Na dann wollen wir doch mal hoffen, dass es Sie nicht eines Tages nach Arabien verschlägt. Ich habe ein gutes Gedächtnis …“.
Wieder lief Miriam sichtbar eine Gänsehaut über den Körper, als sie die Worte in Deutsch für den Kommissar wiederholte. Der öffnete den Mund, um etwas Heftiges zu erwidern, als sich just in diesem Moment die Tür öffnete. Ein Beamter steckte seinen Kopf herein. „Weber – Du musst sofort kommen. Es gibt Ärger.“ Der Blick, den der Mann dabei Rayan zuwarf, sagte eindeutig, wen er für den Urheber der Schwierigkeiten hielt.
Einen Moment lang sah der Kommissar von seinem Kollegen zu Rayan und wieder zurück, dann stand er seufzend auf und verließ den Raum.
Rayans Ärger wandelte sich in Genugtuung. „Na endlich!“, dachte er zufrieden, „das wurde auch Zeit.“
Miriam hatte seinen Stimmungswandel beobachtet und dachte für sich: „Er wirkt kein bisschen überrascht, allenfalls ein wenig erleichtert. Er hatte die ganze Zeit noch ein Ass im Ärmel.“ Aber sie sagte nichts, sondern blieb einfach sitzen, wo sie war. Ihr war anzusehen, dass sie sich nicht wohlfühlte in ihrer Haut. Sie hatte selbst genügend Sorgen und wollte nicht in die Angelegenheiten des Kommissars hineingezogen werden. Wenn der keine Angst hatte, weil er nicht vorhatte, jemals nach Arabien zu gehen – schön für ihn. Sie jedenfalls hatte Familie dort.
Miriam überlegte, was sie sagen sollte, um klarzustellen, dass sie lediglich die Dolmetscherin war, doch sie kam nicht mehr dazu, ihre Gedanken in Worte zu fassen.
Ein Mann in einem sichtbar teuren, dunkelblauen Anzug trat ein, gefolgt von einem kleinlauten Kommissar. „Verdammt Weber, was tun Sie hier? Machen Sie den Mann sofort los!“
Er wartete, bis der Kommissar Rayan die Handschellen abgenommen hatte, dann eilte er um den Tisch herum auf ihn zu. „Mein lieber Scheich! Das ist alles ein riesengroßes Missverständnis! Ich muss mich bei Ihnen in aller Form entschuldigen! Bitte kommen Sie mit in ein angenehmeres Büro nebenan.“ Er sprach Englisch, wie sie es bei ihren sonstigen Treffen auch getan hatten.
Zufrieden registrierte Rayan, dass der Kommissar betreten wie ein begossener Pudel neben ihm stand. Von seiner Angriffslust vorher war nichts mehr übrig. Miriam dagegen kam aus ihrer Verwunderung nicht mehr heraus. Was passierte hier gerade? Und offenbar verstand ihr mysteriöser Verdächtiger auf einmal problemlos Englisch? Ein Scheich? Sie beschloss, sich so schnell wie möglich auf den Heimweg zu machen und am besten nie wieder mit diesem Fall in Kontakt zu kommen. Hoffentlich musste sie nicht als Zeugin eine Aussage machen. Und wer war eigentlich dieser Wichtigtuer im Anzug, der Weber offenbar zur Schnecke gemacht hatte?
Es handelte sich bei dem Neuankömmling um Rayans Kontaktmann im Innenministerium, der ihn bei offiziellen Besuchen betreute, dessen Nummer er Hanif gegeben hatte. Und dem im Gegensatz zu Weber sowohl Rayans politischer Status in Deutschland, speziell in München, aber vor allem auch sein Einfluss zuhause in Arabien klar war. Entsprechend respektvoll schüttelte er nun die Hand des Scheichs.
Weber warf er beim Hinausgehen einen wütenden Blick zu, der den Kopf daraufhin noch ein wenig weiter einzog. Weiterhin auf Englisch fuhr er fort: „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Warum haben Sie mich denn nicht sofort verständigt?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, geleitete er Rayan zur Tür hinaus und erkundigte sich dabei: „Scheich, ich hoffe Sie sind wenigstens anständig behandelt worden“, woraufhin Weber ruckartig den Kopf hob. Er war blass geworden. In all der Aufregung hatte er die Beleidigung, die er Rayan vorher laut seiner Kollegin hatte zuteilwerden lassen, schon wieder vergessen.
Kurz verengten sich Rayans Augen, als er Webers Blick erwiderte. Der trat entsetzt einen Schritt zurück. Nachdem der Scheich ihn um einen halben Kopf überragte und mit seinem leichten Bierbäuchlein kaum gegen dessen Muskeln ankäme, fühlte er sich nicht mehr so sicher, jetzt, wo die Handschellen entfernt worden waren.
Zu seiner Erleichterung antwortete Rayan in diesem Moment auf Englisch: „Keine Sorge, mein Freund, alles in bester Ordnung.“ Der Kommissar wollte gerade ausatmen. Sollte er wirklich Glück haben und mit seinem Verhalten durchkommen? Da fuhr Rayan mit deutlichem Sarkasmus fort: „Ich habe Mister Weber sogar gerade in mein Heimatland eingeladen.“
Weber zuckte zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen. Die Drohung war überdeutlich. Er machte sich eine interne Notiz, seine nächsten Urlaube auf jeden Fall weit weg von der arabischen Wüste zu verbringen. Das Nordkap schien ihm auf einmal sehr sympathisch!
Rayan, der die Gedanken des Mannes mühelos erriet, lächelte noch einmal kalt, drehte sich dann weg und verließ den Vernehmungsraum.
2005 - In der Wüste weit vor Alessia - Ein unhöflicher Gast
Wenn Rayan damit gerechnet hatte, in Taib einen dankbaren und entsprechend höflichen Gast vorzufinden, so hatte er sich getäuscht.
Als es Taib besser ging und er bereits kurze Zeit aufstehen konnte, stand er in der Nähe, als sich der Scheich zu seinem üblichen abendlichen Kontrollritt aufmachte. Erstaunt fragte er einen der Männer, wo ihr Anführer um diese späte Zeit hinreite?
Stolz berichtete der Gefragte, dass das Rayans übliche Routine sei. Er mache dies jeden Abend und Morgen, um ihnen so Ärger vom Hals zu halten. Denn die Wüste verrate ihm, sobald Probleme am Herannahen waren. Man sagte, sie spreche sogar mit ihm und er höre ihr zu.
Doch Taib war keineswegs beeindruckt, wie der Tarmane es erwartet hatte. Statt Ehrfurcht zu zeigen, lachte er trocken. Dann machte er eine eindeutige, kreisende Geste mit seinem Finger in der Höhe seines Kopfes und meinte: „Wenn ihr mich fragt, klingt das eher danach, als hätte er zu viel Sonne erwischt.“
Es war Ibrahim zu verdanken, dass der Krieger dem respektlosen Gast nicht auf der Stelle die Kehle durchschnitt. So über ihren Scheich zu sprechen, war nicht nur ungehörig, es grenzte an Selbstmord.
Später am Abend informierte Ibrahim Rayan über dieses Vorkommnis. Wie sollten sie darauf reagieren? Die Männer im Lager sprachen bereits darüber. Größtenteils waren sie geschockt, wie jemand es wagen konnte, sich derart respektlos zu verhalten. Doch der ein oder andere schien auch den Mut des Fremden zu bewundern. Wenn Rayan den Vorfall unbeachtet ließe, bestand die Gefahr, dass die Männer versuchen würden, ihn nachzuahmen. Auf jeden Fall wäre es ein nur schwer einzuschätzender Gesichtsverlust.
Offenbar war es auch nicht die erste Bemerkung dieser Art. Aber weder der Scheich noch sein Leibwächter konnten Taibs Beweggründe nachvollziehen. Was brachte den Mann dazu, sich so wenig dankbar und unhöflich zu verhalten?
Aufgrund der Verletzungen des Anwaltsgehilfen und des Angriffs hatte Rayan noch keine Gelegenheit gehabt, mehr als drei Worte mit ihm zu wechseln. Er beschloss, dass Taib zumindest so fit sei, ihn auf seine morgendliche Runde zu begleiten.