geburtenarme Volk, unter dessen Obhut die beiden Geschwister Lotaras und
Leoryn herangewachsen waren. Vor Jahren waren die beiden erstmals in
Kontakt mit menschlichen Wesen gekommen, und Elodarion hatte befürchtet,
dass ihr Wesen dadurch Schaden nehmen könnte, denn die Menschen
verweilten so schrecklich kurz auf der Erde, dass ihnen die Abgeklärtheit des
elfischen Volkes fehlte. Zudem waren die Geschwister dem Volk der
Pferdelords begegnet, dem für Elodarions Empfinden die ohnehin
raubeinigeren Menschenwesen angehörten. Als sei dies nicht genug gewesen,
waren seine zarten Kinder auch noch mitten in den Kampf zwischen dem
Menschenvolk und den Horden der Orks geraten.
Elodarion hatte sie ursprünglich als besondere Geste der Achtung an den
Hof des Königs der Menschenwesen schicken wollen. Der König hätte die
Bedeutung dieser Geste zu schätzen gewusst. Doch stattdessen hatten die
beiden Jugendlichen gegen Orks und Graue Zauberer kämpfen müssen, und
so waren ihnen statt sinnlicher Schönheit Blut und Tod begegnet. Aber sie
hatten sich gut bewährt und keinen dauerhaften Schaden genommen. Wenn
man von einer gewissen Zuneigung absah, die sie seitdem gegenüber dem
Volk der Pferdelords empfanden.
Elodarion wollte seinen Fuß gerade wieder auf das frische Gras senken, als
er einen dicken Käfer unter seine Sohle huschen sah. Er hielt inne und setzte
das Insekt behutsam auf eine freie Fläche.
Der Kontakt zu den Menschen war gefährlich, auch wenn man den
Menschenwesen im Kampf gegen die Legionen des Schwarzen Lords hatte
beistehen müssen. Aber wer wirkliche Zuneigung zu den Menschen fasste,
der musste auf leidvolle Weise erfahren, wie vergänglich menschliches Leben
war. Elodarion hätte seinen Kindern diese Erfahrung lieber erspart, aber das
Schicksal hatte es anders bestimmt.
Der Wald war erfüllt vom Summen der Insekten und den Rufen der Tiere,
aber von den fast eintausend Elfen, welche das Haus Elodarions umfasste,
war kaum ein Laut zu hören. Einige der Männer hielten als Späher Wache an
den Grenzen, andere waren auf der Jagd. Die meisten der elfischen Wesen
gingen jedoch schweigend ihren täglichen Verrichtungen nach: der
Zubereitung der Mahlzeiten und der Wäsche ihrer Kleidung, der
Ausbesserung ihres Heims und dem Studium der Natur. Die Meditation war
ein fester Bestandteil des elfischen Lebens und bereitete sie auf die Zeit der
Schröpfung vor, in der die unsterblichen Elfenwesen die Last der
angesammelten Erinnerungen von sich nahmen, indem sie diese zu Papier
brachten und dann vergaßen. Doch trotz ihrer stillen Art waren sie kein
ungeselliges Volk. Jeder besondere Anlass wurde gerne aufgegriffen, um sich
zusammenzufinden und neue Kompositionen oder Gedichte vorzutragen, zu
tanzen und zu lachen.
Elodarion vernahm einen tremolierenden Pfiff aus den Tiefen des Waldes.
Es war ein harmonischer Dreiklang, der aus drei Kehlen zu ertönen schien
und typisch für die Elfen war. Kein anderes Wesen vermochte diesen Klang
nachzuahmen, dessen Einzeltöne jeder Elf verschieden modulieren konnte.
Jedes der elfischen Häuser hatte einen eigenen Dreiklang, und Elodarion
erkannte sofort, das dieser Pfiff von seinem Sohn Lotaras stammte.
Wenig später sah er Lotaras zwischen den Bäumen hervortreten. Der junge
Elf hatte ein erlegtes Geweihtier über die Schultern gelegt. Er war ein guter
Bogenschütze, einer der besten des elfischen Volkes, das sich ohnehin auf
diese Fertigkeit verstand. Lotaras erkannte seinen Vater und winkte ihm mit
einer Hand zu. Er trat mit einer Leichtigkeit heran, die nicht verriet, welches
Gewicht auf seinen Schultern lastete.
»Es ging rasch, und er hat nicht gelitten«, sagte Lotaras lächelnd. »Ich
habe bereits seine unsterbliche Seele um Vergebung gebeten, so wird er heute
Abend unseren Tisch bereichern können.«
Elodarion seufzte leise. »Du solltest auch deine Mutter um Vergebung
bitten.« Als Lotaras fragend die Stirn runzelte, wies sein Vater auf das erlegte
Wild. »Das Blut tropft auf dein Gewand.«
»Oh.« Verlegen zog Lotaras den blauen Umhang enger um sich.
Elfische Umhänge waren etwas Besonderes. In begrenztem Umfang
konnten sie sich dem Hintergrund farblich angleichen und den Träger so an
seine Umgebung anpassen, dass dieser nur schwer zu erkennen war. Zudem
waren ihre Fasern blutabweisend, und so perlte nun das Blut des von Lotaras
erlegten Geweihtieres von den Fasern seines Umhangs ab und tropfte auf den
Boden. Der Umhang würde zwar sauber bleiben, nicht jedoch Lotaras
Gehgewand, auf dem sich bereits erste dunkle Flecken zeigten.
Automatisch, aber erfolglos wischte der junge Elf über die Flecken und
verteilte das Blut nur noch mehr. Elodarion lachte leise auf. »Lass uns lieber
das Tier nach Hause bringen, damit deine Mutter sich dem Gewand widmen
kann. Zum Ausgleich wirst du dann deine Beute zubereiten.«
Lotaras nickte und schritt neben seinem Vater auf das Haus der Eltern zu.
»Ich hoffe, Leoryn findet die richtigen Kräuter und kommt rechtzeitig zurück.
Sobald sie auf Kräuter, Wurzeln und Pilze stößt, ist sie kaum zu halten.«
»Das hat deine Schwester von ihrer Mutter«, seufzte Elodarion.
»Heilerinnen sind nun einmal so.«
Sie standen ein Stück vom Stamm des Baumes entfernt unter einem der
starken Äste. Elodarion stieß einen leisen Pfiff aus, und zwischen den Ranken
sank eine zierliche Plattform herab. Elodarion sah seine Frau Eolyn über sich
und lächelte. »Tritt hinter mich, mein Sohn«, sagte er leise. »Sie braucht nicht
sofort zu sehen, welche Arbeit du ihr bringst.«
»Der Braten wird ihr schmecken«, murmelte Lotaras. »Sie mag
Geweihtier. Vor allem mit dem Kraut des Myrrgenstrauches. Ich hoffe,
Leoryn bringt es mit.«