»Das Haus des Urbaums«, nickte Lotaras. »Das verschollene Haus.«
»Es war immer das mächtigste und größte Haus des elfischen Volkes.«
Elodarion blickte nachdenklich aus dem Fenster. »Weit im Osten liegt es, bei
den versteinerten Wäldern. Schon lange haben wir keine Nachricht mehr von
ihm erhalten, und unsere Versuche, Kontakt aufzunehmen, sind gescheitert.
All unsere Boten sind verschollen, außerdem eine ganze Truppe unseres
Hauses.« Elodarion sah seine Kinder ernst an. »Aber jetzt, nach so langer
Zeit, gibt es Hinweise auf das Haus des Urbaums und darauf, was mit ihm
geschehen ist.«
Elodarion lehnte sich in die fein geschnitzte Lehne seines Stuhls zurück.
»Natürlich ist es nur ein unbewiesenes Gerücht, aber wir müssen jeder Spur
nachgehen. Dies ist immerhin die erste seit dreitausend Sonnenjahren. Ihr
werdet nach Enderonas an den Hof des Königs der Pferdelords reisen. Dort
lebt ein Mann, der Hinweise über das Haus des Urbaums haben soll. Ihr
werdet ihn befragen, und zwar möglichst behutsam, denn niemand soll von
unseren Plänen erfahren. Deshalb gilt euer Besuch offiziell dem Wiedersehen
mit euren Freunden aus der Hochmark.«
Leoryn sah ihren Vater fragend an. »Es ist ein weiter Weg von der
Hochmark Garodems in die Königsstadt Reyodems. Wenn unser Besuch
offiziell nur unseren Freunden aus der Hochmark gelten soll, wie können wir
dann die Weiterreise in die Stadt Enderonas begründen?«
»Überhaupt nicht«, sagte Elodarion lakonisch. »Denn ihr werdet zunächst
nicht über Land, sondern mit dem Schiff in das Reich der weißen Bäume,
nach Alnoa, reisen. Von dort aus werdet ihr direkt nach Enderonas gehen,
nach den Hinweisen zum Haus des Urbaums forschen und dann zu euren
Freunden in die Hochmark weiterziehen. Die umständliche Route werdet ihr
mit den Gefahren begründen, die auf dem Landweg drohen, denn der führt
durch die Gebiete der Barbaren.«
»Mit dem Schiff?« Lotaras empfand Unbehagen.
Sein Vater lachte leise auf. »Nach den fünfhundert Jahren deines jungen
Lebens ist es wohl an der Zeit, dass du deine Füße auch einmal auf ein Schiff
unseres Volkes setzt.«
Leoryn stieß ihren Bruder vergnügt an. »Du solltest dich freuen. Wir
werden zum ersten Mal mit einem Schiff reisen und danach unsere Freunde
aus dem Volk der Pferdelords wiedersehen.«
Lotaras nickte lächelnd. Ja, es würde guttun, den menschlichen Wesen
erneut zu begegnen. Und wie er die Pferdelords einschätzte, würde auch
sicherlich ein beachtenswertes Abenteuer mit dem Wiedersehen verbunden
sein.
Kapitel 5
Der Reiter war von stattlicher Gestalt, und Gleiches galt für das Pferd, auf
dem er saß. Der Mann war nicht besonders groß oder muskulös, aber er
wirkte durchtrainiert und strahlte Kraft aus. Die Hände auf das Sattelhorn
gelegt, blickte er nach Süden, dorthin, wo sich die alte Handelsstraße von der
Hochmark zu den anderen Marken der Pferdelords erstreckte. Sein Gesicht
wirkte gleichermaßen würdevoll und freundlich und wies die Bräune und die
Falten eines Mannes auf, der einen guten Teil seines Lebens auf dem Rücken
eines Pferdes verbracht hatte. Nur vereinzelt waren noch blonde Strähnen in
seinem Haar zu sehen, das von den Erfahrungen des Lebens und von der
Verantwortung, die er trug, schon früh ergraut war. Der Reiter hieß Garodem,
der Pferdefürst der Hochmark.
Garodem war Ende fünfzig, und sein Alter bereitete ihm Sorgen, denn mit
den Jahren begann ihn der Sattel zu plagen. Doch die Vorstellung, eines
Tages nicht mehr reiten zu können, schmerzte ihn noch mehr, weshalb er jede
Gelegenheit nutzte, um seinen eisengrauen Hengst zu besteigen.
Er trug die typischen, fast kniehohen Stiefel des Reitervolkes aus gutem
rotbraunem Leder und dazu die einfachen hellbraunen Beinkleider der
Pferdelords. Der schwere Wollstoff war im Schritt und am Gesäß durch Leder
verstärkt und strapazierbar, wie alles, was ein Pferdelord benötigte. Das
Leben war immer hart für das Reitervolk gewesen und hatte abgehärtet. Zu
den Reithosen trug der Pferdefürst ein einfaches Wams und eine mit
Wolle gefüllte, abgesteppte Lederjacke, die ihm bis über die Hüften
reichte. Es war Sommer, aber hier oben in der Hochmark, die von
Gebirgszügen umschlossen war, wehte oft ein schwacher Wind, welcher der
Sommersonne die sengende Hitze nahm und unerwartete Kühle brachte. Der
Pferdefürst trug keine Rüstung und keinen Helm, doch hing von seinem
Schwertgurt das lange Schwert herab, dessen Handgriff einen kunstvoll
eingearbeiteten Pferdekopf mit Schmiedehammer zeigte, die alten Symbole
der Mark Garodems.
Man sah ihm den Pferdelord an, obwohl er im Augenblick nicht wie ein
solcher gekleidet war, denn um seine Schultern hing ein dunkelblauer
Umhang mit den eingestickten Symbolen der Mark. Die blaue Farbe war das
einzige sichtbare Zeichen seiner Amtswürde, wenn man von den vier Reitern
absah, die abwartend eine Pferdelänge hinter ihm verharrten.
Diesen Männern sah man schon von Weitem an, dass sie Pferdelords
waren. Sie führten die grünen runden Schilde mit dem blauen Rand der
Hochmark und dem weißen Pferdekopf der Pferdelords. Um ihre Schultern
hingen die langen grünen Umhänge der Kämpfer des Reitervolkes. Sie
führten Bogen und Schwert, und in ihren rechten Händen hielten sie die
langen Lanzen aufrecht. An einer der Lanzen flatterte ein langer dreieckiger
Wimpel, der wie die Schilde blau eingefasst war, jedoch auf dem grünen
Tuch ein springendes weißes Pferd zeigte, das sich dem Feind mit solcher
Macht entgegenwarf, wie ihm auch die Lanzen der Pferdelords begegnen
würden.