Sie betraten die Plattform, die sich durch einen verborgenen Mechanismus
sofort wieder in Bewegung setzte und sanft emporstieg. Nur Augenblicke
später standen die beiden elfischen Männer vor Eolyn. Wie alle elfischen
Frauen war sie von makelloser Schönheit. Ihr Name bedeutete Tau, der den
Morgen streichelt, und wenn sie und ihre Tochter nebeneinanderstanden, war
schwer zu entscheiden, wer von ihnen älter war. Eolyn trug ein luftiges, halb
transparentes Gewand und als einziges Schmuckstück einen Stirnreif, der dem
ihres Mannes zum Verwechseln ähnlich sah. Ein leicht skeptischer Zug legte
sich auf ihr Gesicht, als sie Lotaras ansah.
Ihr Sohn räusperte sich verlegen und schob sich rasch an ihr vorbei,
während er den Umhang über die blutigen Flecken zog. »Ich muss noch das
Geweihtier ausnehmen.«
»Und du wirst es auch zubereiten müssen«, sagte Eolyn freundlich. »Damit
ich mich unterdessen deinem Gewand widmen kann.«
Lotaras dachte anerkennend, dass elfischen Augen nicht viel entging,
schon gar nicht denen seiner Mutter. Er nickte schweigend und ging über den
Steg hinweg ins Haus. Eolyn lächelte sanft, doch dann wurde ihr Gesicht
wieder ernst. Sie legte ihre Hand auf Elodarions Arm. »Hast du mit ihnen
gesprochen?«
Elodarion seufzte leise. Wie oft hatte er das an diesem Tag schon getan? Es
war kein angenehmer Tag für ihn, denn wieder standen Entscheidungen an,
die unerwartete Konsequenzen mit sich führen könnten. »Ja, ich habe mit den
Ältesten gesprochen.«
»Und?« Auch nach all den unendlichen Jahren konnte Eolyns Gesicht noch
immer mädchenhafte Neugier zeigen. »Habt ihr es beschlossen? Werden sie
gehen?«
»Ja. Aber lass uns beim Essen darüber sprechen.« Elodarion zog sie kurz
in seine Arme und streichelte sanft über ihr langes Haar. »Die letzten Jahre
waren ereignisreich, und die Dinge entwickelten sich nicht zum Besten. Der
Frieden ist trügerisch.«
Eolyn schritt mit ihm den leicht schwingenden Steg zu den Räumen des
Hauses entlang, wobei ein sanfter Wind ihr Gewand leicht flattern ließ. Ein
bunter Falter verfing sich in einer der sich aufwerfenden Falten, und die Elfin
bot dem ängstlichen Wesen ihre Hand, um es dann unbeschadet weiterfliegen
zu lassen. »Wenige Menschenjahre ist es nun her, dass die Schlacht vor der
weißen Stadt des Menschenkönigs stattfand und die orkischen Legionen des
Schwarzen Lords vernichtet wurden. Die Türme des Bösen wurden zerstört«,
Eolyn sah ihren Gemahl mit sanften Augen an, »aber das Böse selbst wurde
dabei nicht vernichtet. Solange es Licht gibt, wird es auch Schatten geben.
Beides ist untrennbar miteinander verbunden.« Sie lächelte unmerklich.
»Doch es sollte mehr Licht als Schatten geben.«
Elodarion trat neben sie an das zierlich wirkende Geländer des Steges
heran. »Der Schwarze Lord und seine Orks werden wieder stärker. Wir alle
spüren es. Erst vor zwei Jahren haben sie das Volk der Zwergenwesen
beinahe ausgelöscht. Das Haus der Farne unterhält Handelsbeziehungen mit
der grünen Kristallstadt Nal’t’rund, und so erfuhren wir, was sich dort
ereignete. Die Zwerge konnten nur bestehen, weil Menschenwesen ihnen
beistanden.«
Eolyn nickte. »Die Pferdelords.«
Elodarion seufzte erneut. Der heutige Tag schien für ihn der Tag der
Seufzer zu sein. »Ja, die Pferdelords. Seitdem gibt vor allem Lotaras keine
Ruhe mehr, da er seine Freunde mit den grünen Umhängen wiedersehen will.
Nun, so wird er jetzt die Möglichkeit dazu erhalten.«
»Also habt ihr es beschlossen.«
»Wir haben es beschlossen, ja.« Elodarion blickte nachdenklich nach
Osten. Dorthin, wo sich das Land des Schwarzen Lords und seiner Orks
befand. »Es gibt keinen anderen Weg. Wir können ein Haus unseres Volkes
nicht zurücklassen, ohne Gewissheit über sein Schicksal zu haben. Zumal es
sich um das älteste der Häuser handelt.«
»Von dem Elodarions abgesehen«, wandte Eolyn leise ein.
Erneut ertönte ein tremolierender Dreiklang, und die beiden Elfen wussten,
dass er der Kehle ihrer Tochter entstammte. Elodarion legte seine Hand sanft
über die Eolyns. »Lass uns hineingehen und beim Mahl darüber sprechen.«
Die Räume des Hauses waren in verschiedenen Ebenen übereinander
angelegt. Das Haus selbst lag im unteren Bereich des Baumes, wo der Stamm
stark war und der Wind den Baum nicht bewegte. Oben in seiner Krone
befand sich lediglich eine kleine Plattform, die der Beobachtung des Landes
und der Sterne diente und schon bei schwachem Wind leicht ausschwang.
Das Haus verfügte über mehrere Räume, denn jedes elfische Wesen
schätzte die Möglichkeit, sich zurückziehen zu können. Jeder hatte seinen
privaten Raum, dazu kamen noch der Gemeinschaftsraum, in dem auch das
Essen bereitet wurde, und die Bibliothek, in der sich ein Elf auf die
Schröpfung vorbereitete oder sich den Künsten widmete.
Lotaras hatte das Geweihtier bereits von seinem Fell befreit und
ausgenommen. Nun war er dabei, das Fleisch mit klarem Wasser zu waschen
und es je nach Verwendbarkeit zu zerteilen. Einiges davon schnitt er in lange
Streifen, die er danach mit dem Salz abrieb, welches die See-Elfen gewannen,
um sie anschließend in eine scharfe Flüssigkeit zu tunken, die er zuvor aus
Wasser und Kräutern gefertigt hatte. Die Tinktur war wohlschmeckend und
verhinderte zugleich, dass sich Insekten dem Fleisch näherten. Lotaras zog
feine Fäden durch die Enden der Fleischstreifen und hängte sie zum Trocknen
auf. Sobald sie ihre Feuchtigkeit verloren, würden sie zusammenschrumpfen
und zudem äußerst nahrhaft sein, sodass sie gemeinsam mit dem elfischen
Brot den Grundbestandteil