Die Seele des Zauberlehrlings. Betty Kay. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Betty Kay
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960895053
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nicht, dass ich jemanden verletzen werde.« Vermutlich klinge ich nicht so selbstsicher dabei, wie ich gerne würde. Dennoch drehe ich mich um und sehe Oremazz entgegen.

      »Wie sollen wir üben, unsere Feinde außer Gefecht zu setzen, wenn du zögerst, die notwendigen Versuche zu machen?«

      »Das war keine harmlose Übung, Großvater. Das war ein hinterhältiger Überfall auf jemanden, der nicht zu den Bösen zählt. Ich kann so etwas nicht tun.«

      »Schwächling.« Das Gesicht des Großen Zaubermeisters verzieht sich voller Abscheu. »Wieso ist das Schicksal bloß der Meinung, du würdest für den Sieg gegen unseren Feind notwendig sein? Weshalb ist die Zukunft unseres Volkes nur untrennbar mit deinen Fähigkeiten verknüpft?«

      Diese Frage habe ich mir in den letzten zwei Jahren unzählige Male gestellt, ohne eine Antwort zu finden. Wenn mein Großvater in der Lage wäre, mir einen Grund mitzuteilen, könnte ich vielleicht daran glauben, dass er sich nicht geirrt hat. Wenn es eine Erklärung gäbe, weshalb ausgerechnet ich durch die Vision meines Großvaters mit dieser Aufgabe beauftragt worden bin, würde ich mich vielleicht damit abfinden können, unangenehme Dinge zu tun. Doch solange man mir unablässig unter die Nase reibt, nicht gut genug zu sein, werde ich mich innerlich gegen die Vorstellung zur Wehr setzen.

      Verärgert schüttelt Oremazz den Kopf. »Immer wieder enttäuschst du mich. Ich bin es leid, dich Dinge zu lehren, die du nicht verstehst. Deine Eltern würden sich für dich schämen.«

      Ich habe keine Erinnerung an meine Eltern. Sie sind gestorben, als ich noch klein war. Mein Großvater hat mir auch nichts über meine Eltern erzählt. Ich besitze nichts, was ihnen gehört hat: kein Bild, kein Andenken, einfach nichts. Tatsächlich habe ich keine persönlichen Gegenstände mehr aus der Zeit, die ich mit ihnen verbracht habe. Solange ich denken kann, habe ich immer im Haus von Elevanders Eltern gewohnt und mir das Schlafzimmer mit ihm geteilt. Auch wenn seine Mutter sich bemüht hat, mir in ihrem Zuhause ein Heim zu bieten, habe ich mich immer fremd gefühlt. Mir hat etwas gefehlt, das ich nicht näher benennen kann. Wie sollte ich auch? Ich kenne nichts anderes. Eigenen Besitz habe ich nicht angesammelt. Die Souvenirs, die ich mir ersehnt habe, waren verloren, weil mein Großvater sie vernichtet hat.

      Welche Art von Menschen meine Eltern waren, weiß ich nicht. War mein Vater ein großer Zauberer? Hatte meine Mutter ein Faible für Magie oder war sie eine Nichtzauberin? Ich kann sie nicht einschätzen, habe kein Gefühl für das, was sie bewegt hat. Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich ihnen ähnlich bin, ob sie stolz auf mich waren, ob ich mich so entwickelt habe, wie sie es sich gewünscht haben. Der Gedanke, dass sie mich als Schande für unsere Familie empfinden könnten, schmerzt.

      »Du bist ein Versager«, zischt mein Großvater. »Womit habe ich einen Klotz am Bein wie dich verdient?«

      »Aber …«

      »Geh mir aus den Augen. Versch…« Plötzlich verstummt er. Seine Stirn runzelt sich und er fasst sich an seine Brust.

      So schlimm ist mein Versagen nicht gewesen. Misstrauisch beobachte ich, wie sein Gesicht an Farbe verliert. »Was ist los?«

      »Ich …« Er schwankt, streckt die Hände nach mir aus.

      Automatisch greife ich danach, um ihn aufrechtzuerhalten. Mein Argwohn hat sich in Rauch aufgelöst. Meine Sorge hingegen wächst ins Unermessliche.

      Oremazz’ Hand rutscht aus meiner. Noch einmal torkelt er. Dann fällt er zu Boden. Seine Miene verzieht sich zu einer Grimasse, als hätte ihn etwas furchtbar erschreckt. Er wird noch eine Spur blasser, stöhnt leise. Seine Augen schließen sich flatternd, und er erschlafft. Auch seine Atmung verändert sich, sie wird flacher, gleichmäßiger. Er ist ohnmächtig.

      Angst legt einen Eisenring um meine Brust. Was geschieht mit ihm? Woher kommt dieser Anfall? Wie kann ich ihm helfen?

      Ich sehe mich um. Die Menschen im Schlossinnenhof beobachten uns mit schreckgeweiteten Augen. Niemand wagt sich an uns heran. Ich muss diese Situation allein bewältigen.

      Die Aura von Elevander nähert sich. Ich kann spüren, dass er auf uns zuläuft. Auch wenn ich befürchten muss, dass er nichts tun kann, um meinen Großvater von seiner seltsamen Krankheit zu retten, schenkt mir seine Gegenwart ein Gefühl von Vertrauen, dass alles gut werden wird.

      Über meine Schulter hinweg werfe ich Elevander einen Blick zu. Mein bester Freund wirkt besorgt. Er ist meine Familie. Er gibt mir die Kraft, die ich brauche.

      »Helft mir, ihn von hier wegzubringen«, rufe ich. »Oremazz muss sich ausruhen. Wir müssen ihn ins Innere tragen. Bitte, jemand muss mit anpacken.«

      Misstrauische Blicke streifen mich. Niemand scheint davon überzeugt zu sein, dass ich weiß, was zu tun ist. Tja, da geht es mir wie diesen Menschen.

      Ich greife unter Oremazz’ Achseln und will ihn hochhieven. Auch wenn der Große Zaubermeister ein Mann von schmaler Gestalt und nur unmerklich größer ist als ich, gelingt es mir nicht, ihn hochzuheben. Es spielt keine Rolle für mich, wie lächerlich ich wirken muss, als ich rückwärtsstolpere und dabei meinen Großvater mit mir ziehe. Auf diese Art werde ich ihn unmöglich die Stufen hochbringen können. Aber wenigstens tue ich etwas.

      »Ich nehme seine Beine«, sagt Elevander und klingt ein wenig außer Atem vom Laufen. »Gemeinsam schaffen wir ihn mit Sicherheit schneller nach drinnen.«

      »Danke für deine Hilfe.« Ich warte, bis Elevander bei den Füßen meines Großvaters angelangt ist und sie anhebt. Gerade, als ich ihm ein Zeichen geben will, dass wir losmarschieren können, schlägt der Große Zaubermeister die Augen auf.

      Er reißt den Mund auf, saugt hungrig Luft in seine Lungen. Die Farbe kehrt auf seine Wangen zurück. Seine Gesichtszüge entspannen sich.

      Erschrocken lasse ich Oremazz los, weshalb er unsanft auf dem Boden aufkommt. Obwohl ich erleichtert bin, dass er sein Bewusstsein zurückerlangt hat, habe ich Angst vor dem Ausdruck in seinen Augen. Darin spiegelt sich eine neue Dunkelheit, etwas Böses, das nichts mit seiner eigenen Grausamkeit zu tun hat.

      »Was tust du denn da?«, blafft der Große Zaubermeister mich an. »Warum versuchst du, mich zu tragen?«

      »Du bist bewusstlos geworden. Ich hatte Angst, du wärst von etwas besessen …«

      »Und das wolltest du mir in einem dreckigen Graben austreiben?« Mein Großvater ergreift die Hand, die Elevander ihm entgegenstreckt, rappelt sich mit seiner Hilfe auf und klopft sich den Dreck von der Kleidung. Sonderlich erfolgreich ist er damit nicht.

      Verunsichert trete ich zurück. »Ich dachte, in deinem Studierzimmer einen Hinweis darauf finden zu können, wie ich dir helfen sollte.«

      Oremazz seufzt. »In meinen Unterlagen entdeckst du bestimmt nichts, was mit dieser Vision zusammenhängt. Hätte ich vorhergesehen, Bilder der Zukunft zu erhalten, hätte ich selbst Vorkehrungen getroffen. Denk das nächste Mal besser nach. Jetzt ist meine gute Tunika völlig umsonst verdreckt.«

      »Tut mir leid, Großer Zaubermeister. Dann hattest du eine Vision? Dabei bist du bis jetzt doch niemals ohnmächtig geworden.«

      »Die Bedrohung ist auch näher als jemals zuvor. Ich muss sofort mit dem Fürsten sprechen. Du wirst in der Zwischenzeit ein paar Sprüche üben. Das, was du vorhin zustande gebracht hast, ist meines Enkels nicht wert.« Als er losmarschiert, scheint er Elevander das erste Mal zu bemerken, obwohl er ihm hochgeholfen hat. »Hast du nichts Besseres zu tun, als mich anzustarren?«

      »Tatsächlich hätte ich Wichtigeres zu erledigen«, gibt mein bester Freund zu. »Ich dachte allerdings, es wäre ein Gebot der Höflichkeit, erst Lesithder dabei zu helfen, Euch zu versorgen.«

      Der Große Zaubermeister macht eine wegwerfende Handbewegung. »Hätte er so viel Anstrengung ins Lernen der notwendigen Sprüche gesteckt, wäre unsere Lage jetzt nicht so angespannt. Mach dich endlich auf den Weg, Lesithder. Die Zeit arbeitet gegen uns.«

      Ich nicke Elevander zur Verabschiedung zu und gehe dann durch einen Durchgang zu den Stufen, die mich zum Studierzimmer meines Großvaters bringen werden. Das Drängen in seiner