Die Seele des Zauberlehrlings. Betty Kay. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Betty Kay
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960895053
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      »Suchst du in den Büchern nach Antworten darauf, wie wir mit der Gefahr umgehen sollen?« Seine Aufregung springt auf mich über, als er zum nächsten Regal eilt und es durchforstet. Es fällt mir schwer, ruhig stehen zu bleiben und nicht ebenfalls durch den Raum zu laufen.

      »Die großen Propheten aus unserer Vergangenheit haben Brotkrumen hinterlassen, denen ich folge. Die Welt hat sich schon immer vor etwas Vagem gefürchtet, das niemand näher benennen konnte. Wir leben nun in einer Zeit, in der die Bedrohung sich den Sehenden deutlicher zeigt. Wir sind endlich in der Lage, Prognosen zu erstellen und Gegenmaßnahmen in Angriff zu nehmen. Unsere Generation wird die Vorkehrungen treffen, damit wir uns gegen das Unbekannte zur Wehr setzen können. Die, die nach uns kommen, werden hoffentlich in Sicherheit leben können.«

      Die Art, wie er rastlos durch den Raum läuft, der besessene Tonfall seiner Worte, das Feuer in seinen Augen, das gleichzeitig Kälte ausstrahlt, schüren meine Befürchtungen, dass er sich in etwas stürzt, das ihn verschlingen könnte. Meine Sorge, dass er sich übernimmt und über dieser Angelegenheit seinen Verstand verlieren könnte, lässt sich nicht mehr unterdrücken.

      Als er wieder an mir vorbeiläuft, stelle ich mich ihm in den Weg. »Willst du dir die Verantwortung für die Bekämpfung dieser Gefahr ganz allein aufbürden?«

      »Natürlich nicht. Die Anführer der Völker dieser Erde müssen informiert werden. Unser Fürst hat bereits alles Notwendige veranlasst. Man wird Abkommen treffen, die über die Zukunft der Welt entscheiden. Und dann, in ein paar Jahren, wird der Fürst in den Kampf ziehen und das Böse zerschlagen. Das ist der Augenblick, in dem die Zauberkräfte unserer Familie gefragt sind.«

      »Ich verstehe nicht.«

      Oremazz greift nach meinem Kinn und sieht mir tief in die Augen. »Unser Fürst wird die Herausforderung nicht allein meistern können. Er benötigt einen Zauberer, der ihn mit Magie unterstützt, der ihm Ratschläge erteilt, nachdem er einen Blick in die Zukunft geworfen hat. Unsere Welt wird fallen, wenn er die Kräfte der Magie nicht nutzt.«

      »Du willst dich mit ihm auf das Schlachtfeld begeben?«, frage ich. Noch immer klingt diese Version unseres Schicksals so vage, dass ich damit nichts anfangen kann. Meinen Großvater möchte ich allerdings nicht im Zentrum dieser Gefahr wissen.

      »Dafür werde ich zu alt sein, mein Junge. Darum habe ich nach dir rufen lassen. Wir müssen augenblicklich damit beginnen, dich auf deine Aufgabe vorzubereiten.«

      Der Blick in seine Augen hat hypnotisierende Wirkung auf mich. Ich fühle mich benommen, überrumpelt, voller Angst. »Ich soll den Fürsten als dein Stellvertreter begleiten? Ich soll die Rolle des Großen Zaubermeisters übernehmen?«

      Mein Großvater wirkt überrascht. Dann wirft er den Kopf in den Nacken und lacht beleidigend laut. Die Anspannung, die unablässig von ihm ausgegangen ist, entlädt sich in einem Gelächter, das tief in mein Herz schneidet.

      Es dauert mehrere Augenblicke, bis er sich wieder beruhigt. Mein Innerstes ist zu Eis erstarrt. Es tut verdammt weh. Hier stehe ich vor dem einzigen Mann, der von meiner Familie übriggeblieben ist, und er sieht in mir nicht mehr als einen Scherz.

      »Ich sehe es wie unser Fürst«, erklärt Oremazz. »Du bist noch zu jung. Deine Ausbildung würde zu lange dauern, damit du rechtzeitig als mein Stellvertreter fungieren könntest. Dafür würde vermutlich nicht einmal deine gesamte Lebensspanne reichen. Das darf der Fürst allerdings nicht erfahren.«

      »Wie willst du ihn über meine … meine Unfähigkeit hinwegtäuschen?«, frage ich. Meine Zunge klebt an meinem Gaumen, weil die Worte meinen Mund nicht verlassen wollen.

      »Du wirst mein Werkzeug sein. Ich bleibe hier. Allerdings sammle ich meine Kräfte und benutze meine Magie, wie ich es tun würde, wenn ich den Fürsten begleitet hätte. Du wirst mich über alles informieren, was vor sich geht. Unter Zuhilfenahme meiner Fähigkeiten wirst du entscheiden, was zu tun ist. Dann werde ich deine Hände benutzen, um meine Zauber zu wirken.«

      Sein Werkzeug? Es klingt abfällig. Selbst wenn ich lediglich seine Marionette spielen soll, wäre es bestimmt von Vorteil, wenn ich nicht völlig ahnungslos wäre. Ich will die Grundlagen der Materie verstehen. Diese Form des Magietransfers haben wir noch niemals getestet. Das hier ist meine Chance, endlich lernen zu können, was er mir verweigert. »Es wird dauern, bis ich genug Wissen sammle, um als dein Instrument fungieren zu können.«

      »Die Dunkelheit kommt immer näher, Lesithder. Wir können die Augen nicht länger davor verschließen. In meiner Vision sehe ich einen Kampf, der über unser aller Leben entscheidet. Auch du wirst deine Rolle in den drohenden Unglückszeiten spielen müssen. Wir müssen dich darauf vorbereiten.«

      »Ich? Was soll ich schon bewegen? Ich bin kein Zauberer. Meine Fähigkeiten haben dir bislang nicht mehr als Unmut entlockt. Du musst dich irren. Bestimmt war es nicht mein Gesicht, das du in deiner Vision entdeckt hast.«

      »Natürlich nicht«, blafft mein Großvater. Seine Augen sprühen Blitze. »Aber ich habe meine Macht vor Ort gespürt.«

      Erleichterung durchflutet mich dennoch. Mit seiner Wut auf mich kann ich umgehen. Ich habe ihn im Laufe meines Lebens mehr als einmal enttäuscht. Wenn ich mich nun nicht so tapfer verhalte, wenn ich nicht so heldenhaft reagiere, wie er es sich von mir erhofft hat, werde ich ein weiteres Mal in seiner Achtung sinken. Meine Beruhigung durch die Tatsache, dass er nicht mich in seiner Offenbarung gesehen hat und mich dadurch aus meiner Pflicht entlässt, drückt um vieles schwerer auf meine Schultern. Worauf will er hinaus?

      Mein Großvater macht einen Schritt auf mich zu. Je näher er mir kommt, umso unsicherer werde ich. Wellen magischer Energie gehen von ihm aus. In seinen Augen lodert es auf. Ich kann Flammen sehen, die das natürliche Blau seiner Iris verschlingen. Als die Feuerzungen auch das letzte Fitzelchen Weiß seiner Augäpfel überdeckt, entsteht in der roten Flammenhölle ein schwarzer Punkt, der langsam größer wird.

      Angst schnürt mir die Kehle zu. Was passiert gerade? Wird mein Großvater mich in seiner Wut mit einem Flammenzauber belegen? Habe ich ihn dermaßen erzürnt, dass er mich in seiner Raserei direkt in die Zwischenwelt schickt?

      Der schwarze Punkt gewinnt an Geschwindigkeit. Der Fleck rast auf mich zu. Und mit einem Mal verschlingt er mich. Meine Seele löst sich von meinem Körper und befindet sich plötzlich in absoluter Dunkelheit. Sie schwebt im Nichts. Ich fühle mich gewichtslos, unbedeutend, kleiner als ein Staubkorn im Angesicht des Universums.

      Ich löse mich auf. Meinen Körper habe ich längst verloren. Gerade noch war ich nicht mehr als ein Gedanke. Doch auch der beginnt sich viel zu rasch zu zersetzen, als dass ich herausfinden könnte, was gerade mit mir passiert.

      Von einem Wimpernschlag zum nächsten befinde ich mich in einem anderen Wesen. Ich sehe durch Augen, die mir fremd sind. Instinktiv weiß ich, dass mein Großvater mich in seinen Verstand gepflanzt hat. Nun kann er Wissen und Emotionen mit mir teilen. Noch bevor die Bilder auf mich einstürzen, ahne ich, dass der Große Zaubermeister seine Vision mit mir teilen will. Schon die ersten Gefühle machen mir klar, dass ich keine Wahl habe. Ich werde tun müssen, was man von mir erwartet.

      Eine Armee von Schiffen spuckt Soldaten auf die Strände unseres Kontinents. Ihre Anzahl geht über den menschlichen Verstand hinaus. Sie überziehen das Land wie ein Schwarm hungriger Heuschrecken. Es dauert nicht lange, bis sie auch an den Grenzen unserer Heimat stehen.

      Ihre Vorhut hat die Völker dieses Kontinents bereits vernichtend geschlagen. Unsere Feinde sind sogar bis nach Maëlle vorgedrungen. Wer sich nicht vor ihnen verstecken konnte, wurde getötet. Unser Fürst zieht mit dem Rest seiner Männer gegen die neue Flut an Gegnern in den Krieg. Körperlich bin ich nicht anwesend, obwohl mein Geist sich zwischen ihnen befindet. Ich kann keine Gesichter erkennen. Eine Schar an Gestalten kommt an mir vorbei, ihre Züge seltsam formlos. Dennoch verraten mir die Auren der einzelnen Personen, einige Bekannte vor mir zu haben. Ihre Körper sind nicht zu identifizieren, trotzdem weiß ich, wer an mir vorbeizieht. Darum also hat mein Großvater davon gesprochen, mich in seiner Vision gesehen zu haben, obwohl er keine Gesichter vor sich gehabt hat.

      Eine erste Welle