OLG Koblenz StV 1988, 332.
Kümmel wistra 2014, 124, 128 f.
5. Kapitel Akteneinsicht › F. Das Akteneinsichtsrecht des Verletzten gem. § 406e Abs. 1 StPO › II. Versagungsgründe
1. Entgegenstehen überwiegender schutzwürdiger Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen
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Gem. § 406e Abs. 2 S. 1 StPO ist die Akteneinsicht zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Ein Ermessen besteht hier nicht; die Akteneinsicht ist in diesen Fällen zwingend zu versagen. Der Grund für diese Regelung ist der folgende: Die Gewährung von Akteneinsicht in strafrechtliche Ermittlungsakten stellt stets einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Personen dar, deren personenbezogene Daten auf diese Weise zugänglich gemacht werden. Die Auslegung und Anwendung des § 406e StPO hat sich daher an Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu orientieren. Dabei hat das Gericht, das über die Akteneinsicht entscheidet, die gegenläufigen Interessen des Verletzten und des Beschuldigten gegeneinander abzuwägen, um hierdurch festzustellen, welchem Interesse im Einzelfall der Vorrang gebührt.[1] Dabei ist gerade der Stand des Ermittlungsverfahrens im Lichte der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK in die Abwägung der Interessen bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht mit einzubeziehen. Das bedeutet: Steht das Ermittlungsverfahren am Anfang und hat der Beschuldigte selbst noch keine Akteneinsicht erhalten, ist ebenso wie in den Fällen der bereits erfolgten Einstellung des Verfahrens gem. § 170 Abs. 2 StPO, ein überwiegendes Interesse an der Gewährung der Akteneinsicht nicht zu begründen. Besonders schutzwürdige Interessen des Beschuldigten, die der Gewährung von Akteneinsicht in aller Regel entgegenstehen, sind etwa auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse.[2] Wie die Verwendung des Wortes „soweit“ in § 406e Abs. 2 S. 1 StPO deutlich macht, hindern die Versagungsgründe das Akteneinsichtsrecht nur, soweit sie ihm entgegenstehen. Deshalb ist stets zu prüfen, ob eine nur partielle Akteneinsicht gewährt werden kann. Bei gleichem Gewicht der einander gegenüberstehenden Interessen hat das Akteneinsichtsrecht des Verletzten Vorrang;[3] hier ist Akteneinsicht zu gewähren.
2. Sonstige Versagungsgründe
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Die Akteneinsicht kann – dieser Versagungsgrund ist somit fakultativ – gem. § 406e Abs. 2 S. 2 StPO versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Mit dieser (von § 147 Abs. 2 StPO abweichenden) Wortwahl hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass die Anforderungen an diesen Versagungsgrund gering sind.[4] Dieser liegt schon dann vor, wenn durch die Akteneinsicht die unbeeinflusste Wahrheitsfindung beeinträchtigt sein könnte.[5] Eine Versagung der Akteneinsicht kommt – anders als beim Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten aus § 147 StPO – auch nach Abschluss der Ermittlungen noch in Betracht.[6] Nach den Gesetzesmaterialien ist der Versagungsgrund der Gefährdung des Untersuchungszweckes insbesondere dann einschlägig, wenn die Kenntnis der Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte.[7] Dies gilt auch für den Nebenkläger bzw. den zur Nebenklage Berechtigten.[8] Aus Gründen der Waffengleichheit ist dem Verletzten die Akteneinsicht jedenfalls solange zu verweigern, wie diese dem Beschuldigten nach § 147 Abs. 2 StPO verweigert wird.[9]
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Schließlich kann Akteneinsicht für den Verletzten gem. § 406e Abs. 2 S. 3 StPO auch versagt werden, wenn durch sie das Verfahren erheblich verzögert würde. Dies gilt indes nicht, wenn die Staatsanwaltschaft in den in § 395 StPO genannten Fällen, d.h. im Fall der Nebenklage, den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat.
Anmerkungen
BVerfG NJW 2007, 1052, 1053.
LG München I wistra 2006, 240, 240.
KK-StPO/Zabeck § 406e Rn. 6; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch StPO, § 406e Rn. 10.
HK-StPO/Kurth/Pollähne § 406e Rn. 11.
HK-StPO/Kurth/Pollähne § 406e Rn. 11.
OLG Naumburg NStZ 2011, 118 f.; KK-StPO/Zabeck § 406e Rn. 7; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch StPO, § 406e Rn. 12.
BT-Drucks. 10/5305, 18.
LG Düsseldorf StV 2017, 175; BT-Drucks. 16/13671, 22.
LG München I wistra 2006, 240, 240; Thomas StV 1985, 431, 433.
5. Kapitel Akteneinsicht › F. Das Akteneinsichtsrecht des Verletzten gem. § 406e Abs. 1 StPO › III. Die Bedeutung des Verfahrensstandes
III. Die Bedeutung des Verfahrensstandes
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Ungeachtet der obigen Ausführungen ist der erreichte Ermittlungsstand bzw. die Intensität des Tatverdachts für das Bestehen des Akteneinsichtsanspruchs eines Dritten von erheblicher Bedeutung. Eine Akteneinsicht für Dritte in einem Ermittlungsverfahren, in dem allein ein strafprozessualer Anfangsverdacht besteht, wäre nach zutreffender Ansicht ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Rechte der Betroffenen.
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Dass eine Akteneinsicht beim Vorliegen ausschließlich eines Anfangsverdachts nicht in Betracht kommt, gilt im Rahmen des § 406e Abs. 1 StPO unabhängig davon, ob es sich bei der Intensität des Tatverdachts um ein Kriterium für die Verletzteneigenschaft[1] oder für das berechtigte Interesse des Antragstellers[2] handelt, oder ob dieser Umstand erst im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen des Antragstellers und des Beschuldigten zu berücksichtigen ist.[3] Allen diesen Ansätzen liegt das Bewusstsein zugrunde, dass die Voraussetzungen des § 406e Abs. 1 StPO unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auszulegen sind und die mit der Vornahme strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen verbundenen Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten durch die Gewährung von Akteneinsicht an vorgeblich Verletzte vertieft werden. Eine derartige Vertiefung der durch die Ermittlungsmaßnahmen