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Nach einer zutreffenden, von der Rechtsprechung indes nicht aufgegriffenen, Literaturauffassung[16] soll Akteneinsicht zum Zwecke der Prüfung und Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche erst dann gewährt werden dürfen, wenn die Täterschaft rechtskräftig festgestellt wurde. Diese Ansicht hat Velten wie folgt begründet: Akteneinsicht zu einem früheren Zeitpunkt (welche die Waffengleichheit auch im Verhältnis zu den unschuldig Angeklagten verschiebt) ist vielfach nicht erforderlich. Ist sie ausnahmsweise angesichts der ungewöhnlichen Dauer des Strafverfahrens geeignet und notwendig, so stehen die überwiegenden Interessen des potenziell Unschuldigen entgegen. Diese Schranke verhindert eine Instrumentalisierung des Strafverfahrens zur Ausforschung des Beschuldigten.[17]
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In jedem Fall eine genaue Prüfung erfordert die Frage, an der Einsicht in welche Aktenbestandteile der Verletzte ein berechtigtes Interesse hat. Denn es ist allgemein anerkannt, dass kein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht besteht, soweit die begehrte Einsicht keinen Bezug zu der den Verletzten betreffenden Tat hat.[18] Daher sind von der Akteneinsicht jene Aktenbestandteile auszunehmen, die sich nicht in personeller und materieller Hinsicht auf den Tatverdacht beziehen, der die Verletzteneigenschaft der Akteneinsicht begehrenden Person begründet.[19] Klarstellend ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Umfang der Akten als solches und die möglicherweise für eine Trennung der Akten notwendige Bindung von Ressourcen eine vollständige Versagung der Akteneinsicht nicht begründen können. Ressourcenengpässe der Justiz dürfen nicht zu Lasten eines Akteneinsichtsrechtes eines Verletzten gehen.[20]
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Nicht abschließend geklärt ist, ob ein berechtigtes Interesse des Verletzten auch dann vorliegt, wenn dieser zivilrechtliche Ansprüche nicht gegen den Beschuldigten, sondern ausschließlich gegen Dritte – wie etwa eine vom Beschuldigten vertretene Gesellschaft – geltend macht. Jedenfalls bedarf es bei dieser „Drei-Personen-Konstellation“ einer besonders präzisen Prüfung der entgegenstehenden Interessen des Beschuldigten wie auch des (ggf. unbeteiligten) Dritten. Für den Fall, dass dem Verletzten Akteneinsicht gem. § 406e Abs. 1 StPO gewährt werden sollte, erscheint es zunächst naheliegend, dem Dritten – aus Gründen der Waffengleichheit – einen eigenen Anspruch auf Akteneinsicht aus § 475 StPO zuzubilligen. Andererseits handelt es sich hier um einen weiteren Informationseingriff zu Lasten des Beschuldigten (und ggf. weiterer Betroffener), so dass auf eine eigenständige Prüfung der Voraussetzungen des Akteneinsichtsrechts des Dritten nicht verzichtet werden kann.
Anmerkungen
OLG Koblenz StV 1988, 332, 332; NStZ 1988, 89, 90; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt Vor § 406d Rn. 2.
OLG Koblenz StV 1988, 332, 332 f. m.Anm. Schlothauer; LG Stralsund StraFo 2006, 76, 76; LG Berlin BeckRS 2011, 09403; LR/Graalmann-Scheerer § 172 Rn. 54.
Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt Vor § 406d Rn. 2.
OLG Hamm NStZ 1986, 327, 327; OLG Düsseldorf NStZ 1995, 49, 49; LG Mühlhausen wistra 2006, 76, 76; LG Stralsund StraFo 2006, 76, 76; LG Berlin BeckRS 2011, 09403.
LG Berlin BeckRS 2011, 09403 m.w.N.
OLG Stuttgart BeckRS 2013, 13426; diese Entscheidung wurde bestätigt durch BVerfG BeckRS 2016, 40532: Die angegriffenen Entscheidungen sind nicht willkürlich (Art. 3 Abs. 1 GG). Die eingrenzende Auslegung des Begriffs des von der Straftat Verletzten nach § 406e Abs. 1 StPO anhand des Schutzzwecks der – als verletzt unterstellten – Strafnorm ist eine in Rechtsprechung und Literatur gängige Differenzierung“.
OLG Hamburg wistra 2012, 397, 399.
OLG Frankfurt BeckRS 2017, 123986; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch StPO, § 406e Rn. 1; Hilger NStZ 1988, 441.
Riedel/Wallau NStZ 2003, 393, 395 unter Hinweis auf § 16 Abs. 1 Nr. 2 BDSG.
LR/Hilger § 475 Rn. 5.
LG Frankfurt/Main StV 2003, 495, 495; LG Kassel StraFo 2005, 428, 428; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 406e Rn. 3.
LR/Hilger § 406e Rn. 6.
LG Hildesheim NJW 2009, 3799, 3800; HK-StPO/Temming § 475 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 406e Rn. 3.
LG Hamburg BeckRS 2009, 22518; Heintschel/Stöckel § 406e Rn. 12; LR/Hilger § 406e Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 406e Rn. 3; Schlothauer StV 1988, 334, 335.
Heintschel-Heinegg/Stöckel § 406e Rn. 12; anders Riedel/Wallau NStZ 2003, 393, 395 f., die zwar das berechtigte Interesse bejahen, im Rahmen der Interessenabwägung gem. § 406e Abs. 2 StPO von einem überwiegenden Interesse des Beschuldigten an der Geheimhaltung ausgehen.
SK-StPO/Velten § 406e Rn. 13; Otto GA 1989, 289, 301 ff.
SK-StPO/Velten § 406e Rn. 13.
OLG