Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik. Miriam Preußger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Miriam Preußger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000508
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Familie, Senioren, Frauen und Jugend als auch die kritischen Facebook-Kommentare an der gleichen Logik partizipieren. Der Mechanismus der Erweiterung und Öffnung des adressierten Personenkreises ist jeweils verflochten mit einer Beschränkung von Fa­mi­lia­li­tät auf ausschließlich das (biologisch) eigene Kind. Mit Schaffer ist von der Existenz »hegemonialer Repräsentationsformen und -grammatiken«76 auszugehen und zu erkunden, »was überhaupt denkbar, sagbar und daher anschaulich ist in dieser Ordnung [gemeint ist die Episteme im Sinne Foucaults, M.P.].«77 Ihre Arbeit basiert auf der Annahme »der Notwendigkeit einer Analyse der Bedingungen der Sichtbarkeit.«78

      Die neuen Reproduktionstechnologien lassen sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zu gesellschaftlichen Normen nicht eindeutig bestimmen: »Die neuen Reproduktionstechnologien stabilisieren auf der einen Seite gängige Normen – des Kinderkriegens, der Blutsverwandtschaft, der Heterosexualität etc. –, auf der anderen Seite unterlaufen sie diese (wie z.B. die Vorstellung der Kindeszeugung in einer Liebesnacht ohne technische Hilfe).«79

      Auszugehen ist also mit Bergmann von einem »Spannungsverhältnis zwischen den aktiven, denaturalisierenden, alternativen und queeren Praktiken des Verwandtschaftmachens und einem biogenetischen Verständnis von Verwandtschaft, in dem das Wissen von und um Verwandtschaft durch den Code der Substanz beschrieben wird«80. Pointiert resümiert er: »Der Prozess, Verwandtschaft zu machen, wird gespiegelt von einer strukturierenden Praxis, Verwandtschaft zu sein.«81 Prozedurale und substantielle Verwandtschaftspraxen sind demnach miteinander verflochten.

      Die Reportage Das Geschäft mit Social Freezing (von Christiane Hawranek und Lisa Schurr, ausgestrahlt am 24.03.2015, ARD) von Report München (Deutschland 1962-, Bayerischer Rundfunk; TV (ARD)) pro­ble­ma­tisiert facettenreich Risiken und Chancen dieser Technologie. Dargeboten werden Motive und Hintergründe, also Beweggründe von Frauen, ihre Eizellen einfrieren zu lassen. Ist einmal die Existenz der Reproduktionsmedizin akzeptiert, dann erscheint ihre Einordnung interessant. Der Kommentator der Reportage informiert über eine Social-Freezing-Patientin: »Am liebsten würde sie aber trotz der eingefrorenen Eizellen auf natürlichem Wege schwanger werden« (00:05:43). Die Kategorien Natur und Technik werden deutlich geschieden. Demnach gäbe es eine natürliche Geburt und eine technische Geburt. Die Konkurrenz zwischen natürlicher und künstlicher Geburt, der Glaube an die Existenz zweier völlig unterschiedlicher Konzepte ist hyperpräsent.

      In dem Roman Lasse (2015) von Verena Friederike Hasel werden (personell und methodisch) natürliche Geburt und Kaiserschnitt dichotomisch arrangiert:

      »Und deshalb hat meine Beleghebamme mich auch gewarnt vor den Ärzten. Selbst in ihrer fortschrittlichen Klinik herrsche ein wahrer Sektiowahn, hat sie gesagt, und wer sich nicht in Acht nehme, erlebe nicht das Wunder einer natürlichen Geburt, sondern lande unterm Messer.«82

      Ein auf der Titelseite der ZEIT am 23. Oktober 2014 angekündigter Artikel Dürfen Firmen Familien planen?, der im Kontext einer lebhaft geführten Debatte um Social Freezing entstand83, reproduziert ebenso die Natur-Technik-Dichotomie: »Heute ist Frauke Holtmann 41 Jahre alt, hat einen neuen Partner, mit dem sie Kinder haben möchte. Aber auf natürlichem Wege hat es nicht geklappt.«84

      Wenn ich in meiner Studie beispielsweise von Natürlichkeit, Gesundheit, Krankheit oder Behinderung spreche, dann gehe ich stets davon aus, dass es sich um gesellschaftliche Zuschreibungen und Kategorisierungen handelt. Eine durchgängige Kursivierung dieser historischen Kategorien würde die Lesefreundlichkeit massiv einschränken. Die Kursivierung wird daher in den einzelnen Fällen unterschiedlich gehandhabt. Davon abgesehen wird insbesondere dort, wo die illokutive Qualität solcher Ausdrücke im Sinne eines zitierenden Handelns als geklärt gelten darf.

      In der vorliegenden Arbeit interessieren diejenigen familienpolitischen Manifestationen in unserer Medienkultur, die ostentativ facettenreiche (insofern im weiten Sinne zu verstehende) Konnotationen der Kategorien Natur und Kultur/Technik arrangieren. Butler macht innerhalb eines dekonstruktivistischen Argumentationsgangs in Körper von Gewicht deutlich, dass ein identitär-pro­ble­ma­tischer Begriff oder eine ebensolche Kategorie – zu nennen wäre hier nicht zuletzt der Begriff oder die Kategorie Natur85 – weder einseitig verbannt, noch unreflektiert verwendet werden sollte:

      »Daß der Begriff fragwürdig ist, bedeutet nicht, daß wir ihn nicht gebrauchen dürfen, aber die Notwendigkeit, ihn zu verwenden, bedeutet auch wiederum nicht, daß wir nicht andauernd die Ausschlüsse befragen müssen, mit denen er vorgeht, und wir haben dies genau deshalb zu tun, damit wir lernen, wie die Kontingenz des politischen Signifikanten in einer Kultur demokratischer Auseinandersetzung zu leben ist.«86

      Butlers Ansatz sieht also gerade nicht die Vermeidung identitär-pro­ble­ma­tischer Begriffe vor, sondern dessen Befragung auf ihr exklusives Potenzial hin, wobei zu berücksichtigen ist, dass Butler Materie nicht als rein diskursives Konstrukt versteht87.

      Mit Blick auf die vorliegende Arbeit wird die Berücksichtigung der Medienkulturwissenschaft bei Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik gefordert und realisiert. Diese Forderung lässt sich freilich etwas schlichter formulieren: Es wird gezeigt – so das Hauptanliegen dieser Arbeit – wie wichtig die Berücksichtigung medienkulturwissenschaftlicher Pro­ble­ma­tisierungen bei Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik ist.

      Eingedenk der omnipräsenten kommunikativen Auseinandersetzung mit Reproduktionsmedizin (die oben zitierten Ausführungen von Manuela Schwesig und die Kommentare führen es vor), erscheint die medienkulturwissenschaftliche Fokussierung umso virulenter, denn Humanwissenschaften – so Claus Dahlmanns im Rekurs auf Foucault – »verbleiben im Grunde im Feld der klassischen Episteme der Repräsentation, ohne die erkenntnistheoretischen Konsequenzen und Problemstellungen zu verarbeiten, welche die Philosophie seit Kant aufgeworfen hat.«88 Allgemeinverbindliche und eindeutige, universelle Repräsentationen von Familienpolitik kann es nicht geben und gibt es auch nicht. Zu zeigen, wie sich jedoch die vielfältigen Familienpolitiken in unserer gegenwärtigen Medienkultur manifestieren, ist Teil der nun folgenden Untersuchung.

      Die einzelnen Kapitel zeichnen nicht chronologisch die verschiedenen Phasen einer Familiengründung nach. Diese Entscheidung lässt sich hinreichend legitimieren, denn Fa­mi­lia­li­tät der Gegenwart lässt sich aus sich selbst heraus in kein intrinsisch-chronologisches Phasenmodell einbetten. Aus der wissenschaftlichen Perspektive soll daher auch keine Domestizierung erwirkt werden. Kapitel 3, 4 und 5 sind insofern miteinander verbunden, als sie jeweils problemorientiert und kritisch einen Schwerpunkt von Fa­mi­lia­li­tät der Gegenwart zeigen, nämlich familientechnologische Gesundheitsmelancholie (Kapitel 3), ostentative Diversität (Kapitel 4) und Familienkonflikte (Kapitel 5). Der Gliederung ist eine argumentative Struktur inhärent, die sich vom allgemein Diskursiven über ein spezielles Diskursphänomen hin zum konkreten Beispiel entfaltet. Im folgenden Absatz werden die einzelnen Kapitel sowie die zentralen Thesen vorgestellt.

      Kapitel 1 gibt einen umfassenden Forschungsüberblick, um darauf aufbauend die eigene Fragestellung verorten zu können. Es ist wichtig, darauf zu verweisen, dass »[k]ein Buch über Elternschaft […] unpersönlich geschrieben werden [kann]«89. Teilhabe kann im Diskurs über Elternschaft nicht nicht heraustreten. Involviertheit erscheint somit virulent auf der Ebene der Autorin, anderer Diskursteilnehmer_innen, die als wissenschaftliche Stimmen rezipiert werden, und der Rezipient_innen der vorliegenden Arbeit.

      Kapitel 2 präzisiert die der Arbeit zugrunde liegende Methodologie. Dabei wird eine mediensyntagmatische Herangehensweise gewählt, die durch diskurs­analytische Werkzeuge ergänzt wird.

      Kapitel 3 entfaltet über mehrere Schritte, aufbauend auf der Studie von Bruner und den Disability Studies sowie auf Butlers Konzept der Geschlechtermelancholie, die These, dass wir uns gegenwärtig in einer familientechnologischen Gesundheitsmelancholie befinden. Im deutlichen Rekurs auf die Dokumentation Der Traum vom perfekten Kind von Patrick Hünerfeld, jedoch auch abstrahierend davon, durch zusätzliche beispielorientierte Heranziehung weiterer »Medienangebote«90 (Siegfried J. Schmidt), werden pro­ble­ma­tisierte diskursive Elemente im Umfeld von Pränataldiagnostik und Familienpolitik herausgearbeitet und über Deskription