Ich gehe davon aus, dass eine wissenschaftliche Fokussierung auf jene vordergründig unbedeutenden, in die Alltagskommunikation eingeflochtenen familienpolitischen Arrangements wie etwa eine Messe-Topografie oder einen Kalender, und zwar als Medien betrachtet, einen bedeutenden Erkenntnisgewinn darstellt. Grundlage der vorliegenden Arbeit sind deshalb so disparate medienkulturelle Arrangements wie Literatur, Film, Dokumentation, (Zeitungs-)Artikel, TV-Serie, Flyer, Facebook-Kommentar, Schaufenster, Kalender, Nachrichtensendung, Theater und Wunschkarten. Erst eine solche mediale Vielfalt der wissenschaftlichen Objektebene ermöglicht es, die familiale Diversität in unserer gegenwärtigen Medienkultur aufzuspüren und nicht a priori – durch eine vorgängige Eingrenzung auf beispielsweise ›Familie in Spielfilmen‹ – zu domestizieren. Eine Zusammenstellung facettenreicher Medien, die Dichotomien (privat-öffentlich; faktisch-fiktional; Ernst-Unterhaltung u.a.) skeptisch begegnet, ist eingedenk gegenwärtiger familialer Vielfalt eo ipso gerechtfertigt.
Was aber ist die Gegenwart? Es lohnt sich an dieser Stelle die Bedeutungsdimensionen von Gegenwart näher zu bestimmen, weil eine intuitive, rein zeitliche Dimension zu kurz greift. Jahraus etwa hat vermutet: »Aber vielleicht ist die Gegenwart gar keine Zeit, sondern selbst das Gegenteil der Zeit«14. Krauthausen und Kammer arbeiten im Rückgriff auf das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Bedeutungsdimensionen von Gegenwart heraus, die eingedenk der Dominanz der zeitlichen Bedeutung in unserer Gegenwartssprache geradezu erstaunlich sind15. Festgehalten wird eine Verbindung zwischen Gegenwart und Krise: »Sie [die Gegenwart, M.P.] ist als solche krisenaffin.«16 Pointiert formulieren sie: »In diesem Sinne ist gegenwart dann eine gerichtete Bewegung (auf bzw. gegen ›mich‹ zu), impliziert also ein Ereignispotential, das ›mich‹ involviert. Ein Synonym dieser gegenwart wäre: Krise.«17 Das Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Adelung fokussiert im Hinblick auf Gegenwart gerade auf den Aspekt der Wirkung: »Der Zustand, da man durch seine eigene Substanz ohne moralische Mittelursachen, ja ohne alle Werkzeuge an einem Orte wirken kann«18.
Gegenwart lässt sich demnach als eine ortsgebundene Krise auffassen, die weder einer fernen Vergangenheit noch einer fernen Zukunft zuzuordnen ist.
Gegenwärtige familienpolitische Manifestationen zeichnen sich also dadurch aus, dass sie am Ort wirken, sich dort einfinden, sich richtungsorientiert den Zeitgenoss_innen zuwenden und einen krisenhaften Vorfall evozieren. Wenn ich von unserer gegenwärtigen Medienkultur spreche, dann beziehe ich mich eher auf eine räumliche Ausdehnung (»in situ«) denn auf eine zeitliche. Die Fokussierung auf die Gegenwart wird hier vor allem dadurch bewirkt, dass der mediale Ort der Aushandlung, die »mediale […] Vergegenwärtigung«19, sukzessive wechselt, wirkt und so stets auf mich und die Rezipient_innen herausfordernd hinzukommt. Die Analyse »medialer Vergegenwärtigung« ermöglicht also, problemorientiert das »antagonistisch Entgegenkommende«20 von Familialität wie etwa die konflikthafte Auseinandersetzung mit Pränataldiagnostik aufzuspüren.
Es wird mannigfaltig und beispielorientiert gezeigt – und dies ist das Hauptanliegen der Arbeit – wie wichtig bei theoretischen und praktischen Aushandlungen rund um Familialität im Zeitalter medizintechnologischer Bedingungen die Berücksichtigung der medienkulturwissenschaftlichen Perspektive ist.
Fokussiert wird mit der Annahme medizintechnologischer Bedingungen auf die gesellschaftliche Präsenz eines breiten Spektrums von Verfahrens- und Argumentationsmodi, die sich stets wechselseitig konturieren und bedingen. Jene medizintechnologischen Bedingungen werden aufgrund der thematischen Einschränkung schlichtweg als familientechnologische bezeichnet. Dabei geht es mir bei jenen familientechnologischen Bedingungen gerade nicht um die konkrete Einordnung und Explikation von spezifischen Verfahren als Mittel der künstlichen Befruchtung (beispielsweise In-vitro-Fertilisation) oder als Vorsorge-Technik. Die in dieser Arbeit beobachteten familientechnologischen Bedingungen, verstanden als Verfahrens- und Argumentationsmodi, bilden ein diskursives Mosaik, in welchem so verschiedene Signifikanten wie etwa Leihmütter, Samenspender, Pränataldiagnostik, Regenbogenfamilien, biologische Mütter, Perfektion, Machbarkeit und Monitoring existieren.
Der kritische und problemorientierte Impetus der vorliegenden Arbeit führt dazu, dass das Analysieren gegenwärtiger familienpolitischer Manifestationen seinerseits gleichsam zum Manifest werden kann. Dennoch: Niemals geht es um Kritik an einzelnen Protagonist_innen. Problematisiert wird hier nur das diskursive Feld (in Anlehnung an Foucault und Butler). Der kritische Impetus soll im Aufmerken auf das stets miteingeschriebene Problematische, in der Haltung des stets wachsamen Misstrauens Toleranz und Demokratie durchspielen. Dieses Vorgehen lässt entglättend Mehrdeutigkeit zu. Mit dieser Strategie kann an Butler angeknüpft werden, die in kritischer und problemorientierter Haltung ambivalentes, differenziertes, plurales, womöglich uneindeutiges und komplexes Mitdenken des stets Anderen im Kontext von Feminismus und Reproduktionstechnologien präferiert:
»Feministinnen, die die Reproduktionstechnologien kritisieren, weil sie letztlich den mütterlichen Körper durch einen patriarchalen Apparat ersetzen, müssen sich gleichwohl mit der erweiterten Autonomie auseinandersetzen, die diese Technologien für Frauen gebracht haben. Feministinnen, die solche Technologien wegen der damit eröffneten Optionen begrüßen, müssen trotz allem mit den Nutzungsweisen klarkommen, zu denen sich diese Technologien gebrauchen lassen, Nutzungen, welche durchaus die kalkulierte Perfektionierung des Menschen oder die vorgeburtliche Selektion nach Geschlecht und Rasse beinhalten können.«21
Das Gefahrenpotenzial der Reproduktionstechnologien und die durch diese eröffneten Möglichkeiten sollen demnach gleichzeitig in den jeweiligen Betrachtungskontext inkludiert werden.
Die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit lautet daher antipräskriptiv: Welcherlei Familienpolitiken manifestieren sich in unserer gegenwärtigen Medienkultur?
Zur Beantwortung dieser Leitfrage werden in den einzelnen Kapiteln (3, 4, 5) jeweils Teilfragen diskutiert. Die argumentative Bewegung entfaltet sich insgesamt vom allgemein Diskursiven über ein spezielles Diskursphänomen hin zum konkreten Exemplum. Folgende Teilfragen können formuliert werden:
Wie lassen sich die konflikthaft-problematisierten diskursiven Elemente in einem als familientechnologisch zu definierenden Zeitalter und Möglichkeitsraum über reine Deskription hinausgehend inhaltlich bestimmen und einordnen (Kapitel 3)?
Wie arrangieren disparate Medien in unserer Medienkultur die wissenschaftlich bereits intensiv thematisierte Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit bei aktuellen Fragen rund um Familie (Kapitel 4)?
Welche Konfliktfelder und Konfliktkontexte werden medienkulturell im Zusammenhang mit Familienbildung und Familienzusammensetzung angeboten (Kapitel 5)?
Wenn es um Manifestationen von Familialität geht, die in unserer gegenwärtigen Medienkultur, also im Zusammenhang mit einer als grundlegend anzunehmenden Verschränkung von Kultur (Lebenspraxis) und Medien (in ihrer ganzen Disparatheit) zu beobachten sind, dann ist es heuristisch erforderlich, antipräskriptiv von jenen vielgestaltigen Observanzen auszugehen. Diese Observanzen erhalten ihren Status als Observanzen von Gewicht (in Abwandlung zu Butlers Monografie Körper von Gewicht22) dadurch, dass sie einen Familienbezug aufweisen. Ich gehe davon aus, dass der familienpolitischen Vielfalt