Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik. Miriam Preußger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Miriam Preußger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000508
Скачать книгу
Die Disparatheit der Familienbeispiele ist eine gewollte Strategie, um der gelebten familialen Mannigfaltigkeit gerecht werden zu können. Den berechtigten Einwänden im Hinblick auf die facettenreiche Objektebene, wonach das beispielorientierte Potpourri mich einholt, der rote Faden womöglich fehlt, oder (ich habe diese Kritik mehrfach gehört) infolgedessen die Objektebene unmöglich gezähmt, eingeordnet, ja sogar bestimmt werden kann, entgegne ich damit, dass Fa­mi­lia­li­tät nicht einzuholen ist. Aus dieser Uneinholbarkeit von Fa­mi­lia­li­tät resultiert die intendierte Offenheit der Objektebene. Daneben soll darauf verwiesen werden, dass die vereinbarte Nichtunterscheidung oder die Gleichberechtigung mannigfaltiger Medien eben durchaus diskursanalytisch ist.

      Die Arbeit zeichnet sich also durch eine mediensyntagmatische Herangehensweise aus, indem disparate Medien nebeneinander stehen. Durch eine antiprä­skriptive, zum Teil anekdotische Fokussierung auf familienpolitische Aushandlungen sind neue und andere Erkenntnisse rund um Fa­mi­lia­li­tät möglich. Observanzen von Gewicht generieren sich nicht durch ihren Status im Diskurs, der ihnen eine Einordnung als etwa fiktional oder lesenswert einräumt. Observanzen erhalten Gewicht, indem sie unterschiedliche Facetten gegenwärtiger Familienpolitik illustrieren.

      Bevor die Gliederung und die zentralen Thesen der Arbeit am Ende dieses Kapitels zusammenfassend erläutert werden, erfolgen ein anekdotischer Einstieg und eine begriffliche Erfassung unserer »Medienkultur«.

      Mit Franziska Frei Gerlach kann von einer initiierenden Funktion von Intuitionen ausgegangen werden:

      »Intuitionen tragen das Stigma der Unwissenschaftlichkeit und werden darum wohlweislich in der Argumentation verschwiegen, nichtsdestotrotz bezeichnen sie meist den Beginn des Nachdenkens.«23

      Der Beginn des Nachdenkens ist im Folgenden völlig intentional an Impressionen in situ mit dem Ziel gebunden, auch subtile und unscheinbare Familienbezüge zu illustrieren. Im Anschluss daran wird die Synchronizität von Media­lität und Fa­mi­lia­li­tät, von Medien und Familienpraxis exemplifiziert, wobei ausgeführt wird, was es bedeutet, in einer »Medienkultur« zu leben. Jene medienkulturelle Ausrichtung ist dabei hinreichend und notwendig an einen näher zu charakterisierenden Medienbegriff gebunden, der Erkenntnis ermöglicht. Nach einer modellhaften Verdeutlichung und Explikation zentraler Begriffe der Fragestellung (Familienpolitik, Manifestation, Medienkultur) können die daran anknüpfenden disparaten Observanzen von Gewicht herangezogen werden, um den Diskussionsbedarf bei Fragen rund um Familialiät zu verdeutlichen.

      Der Mehrwert des nun folgenden anekdotischen Einstiegs besteht darin, dass familiale Gewöhnlichkeit hinterfragt wird. Das erste Beispiel zeigt anschaulich und praxisbezogen geschlechterstereotype Zuschreibungen im Kontext der Geburt eines Babys. Das zweite Beispiel dokumentiert erstens Fa­mi­lia­li­tät als Herstellungsprozess (»Doing Family«24) und zweitens die selbstvergewissernde, autokonstitutive Sichtbarmachung von Familie (»Displaying Family«25).

      In meinem Bekanntenkreis kommt ein Baby zur Welt. Der Vater informiert mich, nachdem ich wider besseren Wissens das ›Geschlecht‹ des Kindes erfragt habe: »Es ist ein Junge, und deshalb werden wir nun die Hausratsversicherung erhöhen«. Ich möchte nicht leugnen, dass es sich bei diesem ulkigen Beispiel, in dem Geschlechtlichkeit hochgradig stereotyp codiert ist, um eine ganz gewöhnliche nichtwissenschaftliche Alltagskommunikation handelt. Dabei handelt es sich jedoch insofern um eine Observanz von Gewicht, als deutlich zum Vorschein kommt, wie die Ankunft eines Jungen, wie Fa­mi­lia­li­tät ab ovo in kulturelle Zuschreibungen eingebettet ist.

      Unlängst erhalte ich (nicht im Hinblick auf mein Dissertationsprojekt, rein zufällig) eine vermutlich mit dem Smartphone getätigte Aufzeichnung, die eine Familienkomposition medial festhält, begleitet, ja gerade konstituiert: Die Mutter und ihre zweijährige Tochter sitzen am Esstisch und nehmen eine Mahlzeit zu sich. Da der Vater filmt, ist er auf der Aufzeichnung nicht zu sehen, aber zu hören. Fa­mi­lia­li­tät erscheint als medial-performativer Signifikationsprozess26.

      Im Folgenden gebe ich den Dialog der Familie Müller [Namen geändert, M.P.] wieder, wobei zum Verständnis erforderliche Informationen in Klammern beigefügt und zentrale Elemente hervorgehoben sind:

      »Vater: Wo ist die Melanie Müller?

      Melanie [nach einem eher unverständlich singsanghaft-tonalem Gemurmel als Mischung aus dem Familiennamen und dem Vornamen sagt sie laut und durchaus selbst- und identitätsbezogen]: Melanie

      Vater: Melanie und weiter?

      Melanie [erneut]: Melanie

      Vater: Müller!

      Mutter: Und wie heißt der Papa?

      Melanie: Auch Sven [Die erste Verwendung von Melanies auch erscheint aus einer Erwachsenenperspektive falsch, da kein Bezugssubjekt zuvor genannt worden ist. Melanies Kommunikation von einem referenzlosen auch ist aber insofern interessant, als wohl äußerst entschieden von einem allgemein-identitären Zusammenschluss ausgegangen wird, bei dem eben der Vater Sven auch dabei ist]

      Mutter: Genau

      Melanie: Müller Sven

      Mutter: Genau. Müller Sven

      Vater [zeitgleich zur Mutter]: Ja genau

      Mutter [Melanie isst gerade Salami]: Und wie heißt die Salami?

      Melanie: Auch Müller Sven [Mutter und Vater lachen]

      Vater [wohl eine Kontamination aus Müller und Salami]: Müllernami

      Vater: Wie heißt die Mama?

      Melanie: Auch Müller

      Mutter: Ja, genau

      Mutter: Und wie heißt die Stefi?

      Melanie: Auch Müller

      Vater: Sehr gut! Mensch, toll!«

      Das gerade zitierte alltägliche Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen wird ersichtlich, dass unter bestimmten Bedingungen (zumindest der Bedingung des gemeinsam-einheitlich rhetorischen Bezugnehmens, des kommunikativen Gewahrseins der distinkten Existenz) sogar eine Salamischeibe in den Familienbund aufgenommen ist, und zwar in den Augen von Melanie ganz selbstverständlich (»Und wie heißt die Salami? Auch Müller Sven«). Dagegen erscheint die familiale Integration der Salami für die Eltern schon nicht mehr selbstverständlich – so zeigt es zumindest das Lachen an, das Distanz markiert27. Das von Melanie wiederholt verwendete Adverb »auch« drückt – initiiert durch die Eltern in einem freilich diskursiven Kontext – eine Form der Gleichheit, eine Zusammengehörigkeit, d.h. hier in Verbindung mit dem Nachnamen familiale Gemeinschaft aus. An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass Familie hergestellt wird, und zwar mitunter bezeichnungspraktisch und konstitutiv medial. Es ist kein Zufall, dass die Familienkomposition medial begleitet wird; vielmehr konstituiert die Aufzeichnung Familie mit. Entsprechend konstatieren Theunert und Lange:

      »Nur durch ein aufwändiges Zusammenspiel von Routinen und Gemeinsamkeit, Verlässlichkeit und Flexibilität lässt sich noch ein gemeinsames Familienleben etablieren. In diesem Rahmen nehmen die Medien vielfältige unterstützende, zum Teil – so unsere These – konstitutive Funktionen für das Doing Family in symbolischer und praktischer Hinsicht ein«28.

      Der Terminus »Doing Family« rekurriert dabei auf »Familie als Herstellungsleistung«29. Die damit anskizzierte aktive und agitatorische, konstruktive Vorstellung von Familie »umfasst Prozesse, in denen in alltäglichen und biografischen Interaktionen Familie als sinnhaftes gemeinschaftliches Ganzes hergestellt wird.«30

      In der vorliegenden Arbeit wird konzeptionell von einer »Medienkultur«31 ausgegangen – getreu dem berühmten Ausspruch Siegfried J. Schmidts: »Das Programm Kultur realisiert sich als Medienkultur, und man könnte fast hinzusetzen: und als nichts anderes.«32 So ist auch mit Scheffer erstens davon auszugehen, dass »hauptsächlich Medien […] zur Subjektbildung bei[tragen]«33 und zweitens zu betonen, dass »Realitätserfahrung […] überhaupt erst durch eine vorauslaufende mediale Bearbeitung erzeugt und ermöglicht [wird]«34, wobei der Terminus »›Media­lität‹ im