Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik. Miriam Preußger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Miriam Preußger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000508
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– weitere Unschärferelationen sind im Übrigen ebenso inszeniert –, dann wird im Scheitern eindeutiger visueller Identifikation das Leid, die Qual und Gefährdung durch den Großvater, der dagegen deutlich konturiert ist, erhellt. Weiterhin ist Kälter als der Tod ein Film über Adoption, soziale Elternschaft, generell über Fa­mi­lia­li­tät – wie sie eben nicht funktioniert. Es ist ein Strukturmerkmal dieser Tatort-Episode, uneindeutige Perspektiven auf Fa­mi­lia­li­tät anzubieten. Es wird kein Familienkonzept (leiblich; sozial; Mischformen) als viabel inszeniert. Die Uneindeutigkeit des Kamerastandpunktes erhöht die Komplexität und vermeidet das Fällen eines endgültigen Urteils. Jeder Schlusskommentar liefe dem filmischen Spiel facettenreichster Uneinholbarkeit (der Subjektivierung, Familialisierung, Beurteilung) und Mehrdeutigkeit zuwider.

      Als vollends inkommensurabel erscheinen familiale Konflikte in unserer Medienkultur, in denen Frauen ihre eigenen Kinder töten. Ausgelöst respektive motiviert wird die Katastrophe der Kindstötung im Roman Lasse von Verena F. Hasel (Unterkapitel 5.2) – so meine These – durch die Kombination einer fehlenden Anrede und einer gewaltvollen Anrede, die die Protagonistin Nina erfahren muss. Ich werde ausführen, dass Kindstötung in diesem Werk ein Reflexionsfeld eröffnet, welches weibliche Intelligibilität der Gegenwart pro­ble­ma­tisiert. Der Kindsmord im Roman ist eine Chiffre des Scheiterns einer weiblichen Intelligibilität, die ausschließlich verengt-abhängig ist. Ninas Identität ist insofern verengt-abhängig, als erst qua Schwangerschaft eine intelligible (nicht minder prekäre) Position eingenommen werden kann. Daneben – so die These – wird im Roman ein Modell der weiblichen Selbstkommunikation und Selbstwahrnehmung pro­ble­ma­tisierend angeboten, das die verengt-abhängige Intelligibilität als Bedingung auch der Selbstanerkennung vollends internalisiert hat. Der Roman Lasse erweist sich nicht zuletzt wegen der dargebotenen Destruktion biologisch-leiblicher Vaterschaft als äußerst spannend. Jene Destruktion ist aber nicht als Emanzipation von biologistischen Familienkonzepten, sondern als Flucht vor Verantwortung zu verstehen.

      Das Schlusskapitel 6 resümiert die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit. Daneben wird noch einmal abschließend und zusammenfassend die Relevanz der antipräskriptiven Beobachtung und Analyse von anekdotischen, eher ›läppischen‹ Medienereignissen im Umfeld von Fa­mi­lia­li­tät illustriert. Anhand einer Begebenheit auf einem Spielplatz kann gezeigt werden, dass beim Durchspielen von Familie zwangsläufig auf akzeptierte Rollenmuster zitathaft zurückgegriffen wird und folglich von familialer Beliebigkeit nicht die Rede sein kann. Eine an Voraussetzungen gebundene familiale Variabilität in unserer Medienkultur ist aber beobachtbar und lebbar. Darüber hinaus erfolgt in Auseinandersetzung mit einer jüngeren Faust-Inszenierung eine kompakte und beispielorientierte Umsetzung der hier entwickelten neuen Methodologie. Es ist nicht zuletzt das Anliegen der vorliegenden Studie, einmal zu exemplifizieren, was mit einer solchen Herangehensweise möglich ist.

      1. Forschungsüberblick und Positionierung

      Im nun folgenden Forschungsüberblick1 werden diejenigen Arbeiten vorgestellt, die für das vorliegende Projekt heuristisch wichtig sind, an die ich also anknüpfen kann oder von denen ich mich verschiedentlich abgrenze. Hier wird ein separater Forschungsüberblick gegeben, damit basale Zusammenfassungen im Hauptteil sich vermeiden lassen.

      Hilge Landweer zeigt diskursanalytisch in ihrer Monografie Das Märtyrerinnenmodell2, wie sich seit dem 18. Jahrhundert allmählich ein Rollenmuster herausgebildet hat, nach dem Mütter durch einen Gestus des Sichaufopferns in vielfältigen Formen zu charakterisieren sind.

      »Anders als die männlichen – historischen oder politischen – Märtyrer, die sich dadurch auszeichnen, sich für die ganze Gesellschaft oder für Ideale aufzuopfern, opfern sich Märtyrerinnen in erster Linie für ihre ›Familien‹ – Söhne, Töchter, und nicht zu vergessen: Männer. […] Märtyrerinnen sind nichts als Mütter – faktisch oder symbolisch« (S. 72–73).

      Ferner arbeitet sie heraus, wie Mütterlichkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker der Weiblichkeit zugeschrieben wird (S. 96), wobei weibliche Individualität aufgrund der Relationalität eher als »Dividualität« zu bezeichnen ist (S. 133). Historisch ist eine sukzessive Verschärfung der Anforderungen an die Mutter festzustellen, eine Steigerung ihrer Verantwortung, eine Ausweitung der Arbeit in direktem Bezug zum Kind (S. 98) und zum Fötus (S. 124). Die Arbeit von Landweer ist im Hinblick auf die vorliegende Studie von Interesse, weil die von dort profilierte Figur der Märtyrerin als Analysekategorie gegenwärtiger Problemhorizonte von Mütterlichkeit verwendet werden kann. Die identitätsstiftende Verschränkung von Mütterlichkeit und Weiblichkeit wird als tödliches Krisenphänomen etwa im Roman Lasse (siehe Unterkapitel 5.2) inszeniert.

      Silja Samerski fokussiert in Die verrechnete Hoffnung3 auf die neuen Entscheidungssituationen, die sich durch die genetische Beratung ergeben. Sie zeigt, wie die bis ins 20. Jahrhundert existente Bedeutung von entscheiden im Sinne von »klären«, »bestimmen«, »verfügen« und »urteilen« sich seit den sechziger Jahren verschoben hat. So kann die allgemeine Bedeutung von Entscheidung nunmehr als »Wahl zwischen Möglichkeiten« verstanden werden (S. 87). Samerski zeichnet eine genetikbezogene Logik nach, die Hoffnung durch eine abstrakte Form des Wissens obsolet erscheinen lässt (S. 17–18). Die Thesen Samerskis sind für die hierher gehörende Fragestellung insofern bedeutend, als aktuell jene von ihr pro­ble­ma­tisierte Kategorie der Entscheidung im Kontext von Familienpolitik virulent und durchaus auch leidvoll verhandelt wird.

      Hanna Meißner konturiert besonders mit Blick auf Butler und Foucault »Generativität als historisches Dispositiv«4, wobei der Begriff Generativität ihr zufolge allgemein als Sorge um nachwachsende Generationen (S. 156, Fußnote 3) zu verstehen ist. Generativität ist durch den funktionalen Imperativ der Optimierung des Menschen vorgeprägt (S. 163) und konstituiert sich gerade durch eine »Naturalisierung vermeintlicher Notwendigkeiten des Lebens« (S. 156–157). Zusammenfassend konzeptualisiert sie Generativität als ein multidimensionales dispositives Gebilde, in dem jedweder sorgende Beziehungszusammenhang zum Nachwuchs normativ reguliert ist (S. 163–164). Die dispositive Erfassung von Optimierungsimperativen und Phänomenen der Sorge, allesamt häufig zu beobachten, unterstützt die auch hier zugrunde liegende Annahme der Potenzialität zur (Norm)Veränderung. Meißner fokussiert demnach theoretisch auf ein dispositives Ordnungsschema der Sorge im Kontext von Reproduktion, welches hervorgebracht und wandelbar ist.

      Überwachung und Risiko von Schwangerschaft werden von Elsbeth Kneuper korrelativ in Anschlag gebracht: »Die Vorstellungen der Schwangeren von der Geburt sind gerade durch die engmaschige Überwachung des schwangeren und des kindlichen Körpers heute mehr denn je von Risiken geprägt.«5 Dabei verweist die Autorin ferner auf die Reglementierung des Alltags durch Fokussierung auf Gesundheit (S. 195). Die Feststellung der alltagsbestimmenden Norm der Gesundheit im Umfeld von Familienpolitik erweist sich als äußerst wichtig für die vorliegende Arbeit. Im Unterschied zu bisherigen Annahmen verfolge ich allerdings, ausgehend von einem disparaten Mediensyntagma, eine qualitative Einordnung und über Deskription hinausgehende Profilierung der prekären Einkapselung von Gesundheit in Fa­mi­lia­li­tät.

      Eingangs habe ich Sheldons Persiflage (The Big Bang Theory) eines einseitigen Gendeterminismus aufgezeigt (»Wir begehen einen genetischen Betrug. Es gibt keine Garantie, dass unsere Spermien hochintelligente Nachkommen hervorbringen. Denk doch mal nach. Ich hab eine Schwester mit ziemlich derselben DNA-Mischung und sie serviert Fastfood«). Nichtsdestotrotz – eine Persiflage benötigt eine Folie. Dies ist hier nun gerade die Folie der Genetisierung der Zeugung6, die von Wülfingen herausarbeitet. Das Ziel ihrer Untersuchung ist es, zu zeigen, ob und wie seit Ende der 1990er Jahre diskursive Veränderungen eintreten, die Sterilität normalisieren (S. 12). In ihrer an Foucault angelehnten archäologischen Beobachtung der Veränderungen der Darstellungsweise Neuer Reproduktionstechnologien im Hinblick auf Infertilität und Fertilität (S. 15) geht es ihr weniger um harte Fakten als um faktenschaffende Möglichkeiten aufgrund von Visionen und Fiktionen (S. 9–10). Die Objektebene speist sich aus »Texte[n] in deutschen Publikumsmedien von 1995 bis 2003 […], die den Angaben nach von Experten und Expertinnen aus dem Gebiet der Gen- und Reproduktionstechnologie