Er weist auf den Unterschied hin zwischen dem, was Christus erleidet und dem, was den Menschen eigentlich erwarten würde, da er im Gegensatz zu Christus Sünder ist. Er läßt als Ermahnung folgen: „Wa Christo eyn nagell seynn haend adder fueß durchmartert, soltestu ewige solch und noch ergere negell erleyden, alßo dan auch geschehn wirt denen, die Christus leyden an yhn laßen vorloren werden“1.
Später folgt eine weitere Ermahnung: Die Betrachtung der Passion und das damit verbundene Erschrecken ist unausweichlich. Wenn wir nicht in diesem Leben über den Gekreuzigten erschrecken und Christi Leiden fühlen, dann spätestens beim Sterben und im Fegfeuer. (6)
Seelsorglicher Umgang mit dem Leser
Der Sermon ist streng durchgegliedert, er führt sachbezogen zu seinem Ziel. Dennoch ist er in der Art eines Zwiegespräches Luthers mit seinem Leser gehalten. Dies wird an dem „Du“ deutlich und der Art, den Leser durch die gesamten Ausführungen hindurch persönlich anzusprechen. Darüber hinaus erweist sich Luther hier als Seelsorger, der um die Schwächen und Ängste der Menschen weiß. Besonders an zwei Stellen tröstet er den Leser, indem er voraussieht, welche Zweifel ihn plagen könnten.
Er weist ihn darauf hin, daß es sein kann, daß man Christus um fruchtbares Bedenken seiner Leiden bittet, aber nicht sofort erhört wird. Dann „sol man nit vorzagen odder ablassen“. Dazu ist es möglich, daß man den Eindruck hat, daß das Bitten nicht erhört wird und darunter leidet. Luther tröstet: „… und mag wol seyn, das er nit weiß, das Christus leyden yn yhm solches wirckt.“ (11) Gerade das Leiden unter dem Nicht-Erhört werden kann bedeuten, daß Christus ihn den Schmerz leiden läßt, der zur conformatio führt.
Auch die Angst des Menschen, nicht genug zu glauben, um, wie angeraten, die Sünden voll Vertrauen auf Christus zu werden, nimmt Luther vorweg und geht von dieser Erfahrung aus, wenn er rät: „Wan du nit magst gleuben, ßo soltu … Gott darumb bitten … Magst dich aber da zu reitzen, nit das leyden Christi mehr an zusehen …“, (indem er auf das liebende Herz Christ blickt). (14)
2.1.1.2 Die Beziehung des Sermons zur Tradition
In mancher Hinsicht wird im Sermon Luthers die Tradition hörbar, aus der er kommt und von der sein Denken gespeist ist. So ist mit dem Bedenken der Passion das Ziel verbunden, daß daraus die Gottesliebe erwachsen soll.
In seiner Schrift „De institutione inclusarum“ gibt Aelred von Rielvaux (+ 1167) eine Anweisung, wie durch die Meditation der beneficia Christi die Gottesliebe geweckt werden soll. In zwei Formen zeigt sich die wahre dilectio dei: „affectus mentis“ und „effectus operis“, d.h. im inneren Menschen durch die Meditation und am äußeren Menschen am Handeln erkennbar. Diese zweifache Form der Liebe zu Christus hat sich zum grundlegenden Schema in der Passionsbetrachtung entwickelt und findet sich z.B. auch wieder bei Jordan von Quedlinburg und Ludolf von Sachsen.1
Es geht bei der Betrachtung der Passion auch nach der Tradition darum, daß der Einzelne ein Verhältnis zu Jesu Leiden gewinnen soll2. Diese auf den Einzelnen bezogene Sichtweise ist auch bei Gerhart Zerbolt ausgeführt, wenn er formuliert, daß Christus „… pro te solo crucifixus esset et homo factus“3. Dies bringt Luther als Voraussetzung zu Beginn des Sermons zum Ausdruck, wenn er ausführt, daß das Für-wahr-halten Gottes ohne Bedeutung ist, wenn „er dier nit eyn got ist“.
Auch das von Luther im Sermon als von zentraler Bedeutung benannte Ziel der Betrachtung, daß „der mensch zu seyns selb erkenntniß kumme“4, hat seinen Vorläufer in der zeitgenössischen mönchischen Frömmigkeit5. Dennoch versetzt er dieses Ziel durch seine Anweisung zur Betrachtung des Leidens in einen anderen Rahmen: die Selbsterkenntnis ist nicht mehr etwas, das der Mensch durch sein Handeln zu erlangen hoffen kann, sondern sie ist eine Gottesgabe, die ihm in der Betrachtung nach Gottes Willen von diesem übereignet wird.6
In mancher Denkweise und Begrifflichkeit wird die Herkunft von Luthers Denken und sein Stehen in der Tradition deutlich. Doch stellt er seinen Weg der Passionsbetrachtung in eine neue Bewegung.
Sichtbar wird dies an seiner Umformung des Verständnisses von exemplum und sacramentum.
Am Ende des Sermons, im 15. Punkt, führt Luther die Unterscheidung sacramentum – exemplum ein. Das Leiden Christi ist demnach bis dahin unter dem Aspekt des sacramentum zu verstehen: Es weist hin auf Christi Leiden und Sterben und bezeichnet damit das Leiden des Betrachters im Gewissen und sein Absterben in Bezug auf die Sünde. Es bezeichnet, was es bewirkt: Mit Sterben und Auferstehen Christi sind wir in sein Schicksal hineingezogen und dem Anspruch entzogen, den der Tod auf uns aufgrund unserer Sünde hatte. Dieses Geschehen ist allein das Wirken Christi an uns; sein Leiden ist sacramentum. Erst danach kann sein Leiden uns auch zum exemplum werden: wir folgen ihm in unserem Handeln nach, weil wir ihm gleichförmig geworden sind. Nun können wir selber wirken, seinem Exempel folgend, aber allein aus der Gottesliebe heraus, die durch die Erkenntnis seiner Liebe in uns entstanden ist.
Mit diesem Verständnis des überlieferten Unterscheidungspaares von sacramentum und exemplum verleiht Luther diesen Begriffen eine andere Bedeutung als sie von der Tradition her hatten.
Die Unterscheidung rührt von Augustin her. Christi Leiden ist dem Menschen als exemplum und sacramentum vor Augen gestellt und darin eine doppelte Handlungsaufforderung an den Menschen.
Er bezeichnet den Kreuzestod Christi als exemplum insofern, daß der äußere Mensch ihm darin in seiner Bereitschaft zum Martyrium folgen soll. Christi Tod ist sacramentum dadurch, daß er den Menschen zur Buße auffordert, durch die sich auch in ihm das Absterben der Seele vollzieht und er so der Macht der Sünde entzogen ist. Augustin hat die beiden Begriffe also jeweils auf den homo interior (Buße) und den homo exterior (Nachfolge) bezogen.7
Indem Luther die Unterscheidung im Sermon aufgegriffen hat, hat er diese Differenzierung des Menschen in den homo interior und exterior aufgehoben, sondern beide auf den ganzen Menschen bezogen. Dazu gewichtet er sie unterschiedlich: der Tod Christi als sacramentum ist eine abgeschlossenene Handlung, die keiner Folgehandlung mehr bedarf, er ist exemplum insofern, daß der innerlich gewandelte und mit der Gottesliebe ausgestattete Mensch als Folge dessen nun nach dem Exempel Christi handelt, ohne daß es ihm eine Leistung abverlangte oder als solche zu begreifen wäre.8
Darin zeigt sich auch ein anderes Verständnis des Lebens Jesu bei Luther: er sieht es nicht mehr – wie die Tradition in Nachfolge Augustins – im ganzen als Leidensgeschichte und disciplina mora, die uns zur Nachahmung aufgegeben ist, sondern es ist zuerst durch seinen Tod uns zum sacramentum geworden, in dessen Folge uns ein Handeln nach den Tugenden erwächst.
Luther bindet die Wirksamkeit des Sterbens Christi als sacramentum und exemplum an die rechte Passionsbetrachtung: Christus wird uns zum sacramentum durch das von Gott geschenkte rechte Bedenken und der darin am Betrachter bewirkten conformatio.
Er wird zum exemplum für das eigene Leben, was ebenso als Wirkung der conformatio anzusehen ist: Gott gestaltet den Menschen im rechten Betrachten zum Exemplum Christi. Gott bewirkt im Menschen, daß er die Tugenden vollzieht. Dem entspricht auch Luthers Gedanke, daß uns Christus zuvor Gabe und Geschenk (= Versöhnung) werden muß, bevor er zum Exempel wird9.
Versöhnungslehre
In der Art und Weise, in der Luther den Zusammenhang von Zorn Gottes, Leiden Christi und Rechtfertigung des Menschen darstellt, ist erkennbar, daß die für die westliche Theologie prägende Versöhnungslehre des Anselm von Canterbury auch sein Denken geformt hat.
Ebenso deutlich wird auch, daß er Schwerpunkte neu setzt, aber indessen überhaupt nicht beabsichtigt, in seiner Anleitung zur Betrachtung des Leidens Christi eine systematisch lückenlose Darstellung eines Versöhnungskonzeptes zu bieten.
Im Vordergrund seines Interesses steht für ihn dagegen statt eines Weges, wie Gott zu versöhnen sei, der Mensch, seine Begegnung mit dem Leidenden und die Weise, auf der ihm das Leiden Christi zunutze wird.
Wesentliche Elemente von Anselms Konzept kommen zur Sprache: