1.2 Die Untersuchung
Im Rahmen der Untersuchung soll im Blick auf das Verständnis der Passion und der diesbezüglichen Botschaft der Lieder diesen Fragen nachgegangen werden:
In welchem historischen Kontext ist das Lied entstanden und hat es zuerst gesprochen? Vor welchem theologischen Hintergrund ist es gedichtet, d.h. welche dogmatischen Voraussetzungen prägen es? Welche Aussagen macht es darüber, wer der Gekreuzigte für seinen Betrachter ist? Wer ist der Mensch vor dem Gekreuzigten? Was ist das eigentliche Geschehen am Kreuz und was bedeutet es für den Menschen vor ihm? Wie wird es ihm zugeeignet? Worin besteht demzufolge sein Potential, einen Menschen anzusprechen und seinen Lebensvollzug mit der Botschaft vom Kreuz zu verweben?
Die Untersuchung richtet sich also auf die Texte der Passionslieder in ihrem theologischen Zusammenhang, auf die Melodien, die Dichter und Melodisten.
Es liegen bisher einige Arbeiten vor, die eine einzelne Liedkategorie ausführlich in ihren theologischen Zusammenhang stellen. Dazu gehören Untersuchungen zu Abendmahlsliedern, Adventsliedern und Taufliedern1. Lieder zur Passion haben bisher erst in überblicksartigen Aufsätzen Beachtung gefunden2.
Als Ergebnis der im 19. Jh. entstandenen kritisch-systematischen Hymnologie liegen Liedkompendien vor3, in denen Melodien und Texte von Kirchenliedern gesammelt und kurz kommentiert sind. Wo der Kontext beleuchtet wird, liegt der Schwerpunkt auf der biographischen Darstellung der Lieddichter4, weniger auf dem Lied selbst in seiner eigenen Aussage. Darüberhinausgehend veröffentlichte Johannes Kulp im Handbuch zum EKG kurze Analysen von Text und Melodie von Kirchenliedern5. Als entsprechendes Nachfolgewerk zum EG ist die „Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch“ entstanden, in der diese Methode verfeinert und ausführlicher durchgeführt wird.
Erst seit den 50er Jahren sind Einzelstudien zu Kirchenliedern entstanden, in denen der Werdegang von Liedern und ihr theologischer Kontext dargestellt werden. Als Monographie, die den Zusammenhang von Kirchenlied, Frömmigkeit und Theologie beleuchtet, ist seit 1957 das Buch von Ingeborg Röbbelen6 bestimmend gewesen, die allerdings – geprägt von der dialektischen Theologie und ihrem Verständnis von Frömmigkeit – Lieder des Barock theologisch als eher minderwertig beurteilt.
Nachdem sich zunächst die germanistische Forschung erneut auf Lieder des Barock konzentriert hat7, ist innerhalb der Theologie das Interesse an theologischer Liedforschung gewachsen. Hierzu liegen Arbeiten von Elke Axmacher u.a.8 vor, in denen Lieddichtung und Gesangbuch nicht nur biographisch, sondern auch theologisch eingeordnet und analysiert werden. Mit Passionsfrömmigkeit und ihrem Niederschlag in Passionsliedern befaßt sich Anne-Madeleine Plum9. Dazu gibt es einzelne Aufsätze, die sich in dieser Weise auch auf die Theologie der Passionslieder z.B. Paul Gerhardts gerichtet haben10.
Als Quelle für die hier untersuchten Passionslieder dient der Stammteil des Evangelischen Gesangbuches, das seit 1996 EKD-weit eingeführt ist. Dessen Lieder sind als Teil des gegenwärtigen Singens geeignet, die Frömmigkeit der Gegenwart zu prägen. Wie der Einzelne sein Glaubensleben in Bezug auf die Passion vollzieht, ist bei der Diversität christlicher Lebensentwürfe und -vollzüge schwer zu eruieren. Aber die Lieder des EG haben durch dessen Verbreitung in den Gemeinden der EKD und durch ihre Verwendung im Gottesdienst einen hohen Wirkungsgrad. Deshalb sind sie am ehesten als Träger einer Passionsfrömmigkeit der Gegenwart anzunehmen oder haben das Potential, Träger zu werden.
Die untersuchten Lieder stammen aus zwei Zeiträumen:
Das 16. Jh., die Zeit der sich ausbildenden reformatorischen Theologie und der Konstituierung der evangelisch-lutherischen Kirche im Raum der deutschen Länder.
Das 17. Jh., die Zeit des Dreißigjährigen Krieges und der nachfolgenden Jahrzehnte. Das zuletzt entstandene Lied stammt aus dem Jahr 1722; es steht am Ende der Entwicklungslinie, auf der sich die zuvor betrachteten Lieder des 17. Jh. bewegen; es ist, auch im Blick auf seinen Dichter, dem Dresdner Superintendenten Löscher, im Gottesdienst der Kirche beheimatet und in ihm sind orthodoxes Luthertum und innige Jesusfrömmigkeit miteinander verbunden. Zu diesem Zeitpunkt hat aber mit dem Gedankengut des Pietismus und der Aufklärung und der damit verbundenen Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit auch schon eine neue Entwicklung in der Lieddichtung begonnen.
In dieser Untersuchung werden zunächst die Passionslieder in der Reihenfolge ihrer Entstehung als in sich vollständige und eine eigene Botschaft tragende Kunstwerke betrachtet, und zwar in zwei Abteilungen, den beiden Zeiträumen des 16. und 17. Jh.
Dabei wird die früheste belegte Fassung zugrunde gelegt. I.d.R. dienen als Quelle die Werke von Zahn und von Wackernagel, soweit sie die ursprüngliche Fassung vorliegen hatten. Von der ursprünglichen Fassung abweichende Lesarten in der gegenwärtigen, also der EG-Fassung werden benannt.
Es werden zunächst die Zusammenhänge beleuchtet, in denen das Lied jeweils entstanden ist: Dichter, Komponist, Ort und Zeit.
Seine Botschaft wird in Form eines Kommentars zum Text herausgearbeitet.
Die Art und Weise, wie es in Musik gesetzt ist, und die Korrespondenz von Ton und Wort, von musikalischer und theologischer Botschaft, werden untersucht.
Die Botschaft wird in Zusammenhang mit dem gelehrten Glauben und der gelebten Frömmigkeit zur Zeit der Entstehung gebracht.
Daraus wird die Idee erschlossen, die das Lied über die Zeiten hinaus in sich trägt: die Botschaft über den Weg, auf dem dem Glaubenden das am Kreuz erworbene Heil vermittelt wird.
Die Einzeluntersuchungen sind eingebettet in einen Rahmen:
Vorangestellt wird Luthers „Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi“ von 1519 (WA 2, 136–142). Dazu werden zwei andere sermones de passione dargestellt. Dabei wird Luthers Umgang mit der Passion und ihre Einordnung in sein theologisches Denken herausgestellt. Luthers Verständnis von der Passion Christi und vor allem von der Art und Weise der Aneignung durch den Menschen, der sie betrachtet, spiegeln den Neubeginn, den er mit seiner Theologie macht. Es werden anhand der drei Sermones Weg und Inhalt, Absicht und Zielrichtung der Passionsbetrachtung nach Luther dargestellt. Die in der Arbeit untersuchten Passionslieder sind ein Teil der vom Denken und von der Theologie Luthers geprägten reformatorischen Entwicklungen. In der Untersuchung soll deren Aussage ans Licht gestellt werden, doch Luthers inhaltliche Schwerpunkte der Passionsbetrachtung sollen dabei im Hintergrund stehen und einen hermeneutischen Kanon bilden, an dem sich die Fragen an die Lieder ausrichten.
Nachdem die Lieder einzeln untersucht worden sind, wird das Liedkorpus in seiner Gesamtheit betrachtet: Wo ist seine Botschaft in der biblischen Theologie vom Kreuz und wo ist sie in der dogmatischen Theologie zu verorten?
In der Schlußfolgerung soll mit Blick auf die Gesamtheit der Lieder der Frage nachgegangen werden, was ihre Aussage und Bedeutung für die Existenz des Einzelnen und im Leben der Christlichen Kirche ist.
1.3 Begriffsklärungen
1.3.1 Kirchenlied
Als Bezeichnung der im Gottesdienst gesungenen Lieder hat sich im Sprachgebrauch der Begriff des Kirchenliedes eingebürgert. Die Literatur spricht von der „Geschichte des Kirchenliedes“.
Der Begriff des Kirchenliedes taucht als Bezeichnung für das im Gottesdienst der Kirche gesungene Lied zuerst bei Herder auf und manifestiert sich in den Anthologien des 19. Jh. und beginnenden 20. Jh.1
Zuvor gab es mannigfaltige Bezeichnungen; es tauchte auch schon im 16. Jh. der Begriff „kirchenlidlin“2 auf, wurde aber neben anderen verwendet, ohne daß eine Begriffshierarchie oder allgemeine Systematik bestanden hätte. So taucht auch der Begriff „Geystliche Lieder“ schon auf dem Deckblatt zum Babstschen Gesangbuch von 1545 auf; dieser Begriff wird in der Vorrede zum Kap. 2 definiert werden.
Dabei postuliert der Begriff scheinbar die Existenz einer Gattung, d.h. einer musikalischen Form mit einheitlichen Stilmerkmalen. Aber Form, Melodik,