Was von der „Gattung“ Kirchenlied sprechen läßt, ist eine Übereinstimmung in der Funktion, die nach C. Dahlhaus3 musikalische Gattungen bis ins 18. Jh. bestimmt, bevor andere Merkmale gattungsprägend wurden.
Darum ist es sinnvoll, angesichts dessen, daß die in heutigen Gesangbüchern befindlichen Liedern im Gottesdienst gesungen werden, von ihnen als Kirchenliedern zu sprechen, mit dem Wissen im Hintergrund darüber, daß man von deren Entstehung her kaum von einer übereinstimmenden Funktion sprechen kann, da die Unterschiede in Entstehungskontext und erster Bestimmung unterschiedlich sind: Die heute im Gesangbuch versammelten Lieder können für ein Erbauungsbuch, als nicht zum Gesang bestimmtes Gedicht, als Lied für die häusliche Erbauung, als Lied zum Zwecke der Ausbreitung des reformatorischen Gedankengutes, als Lehrmittel für die Schule oder gar wirklich für den liturgischen Gebrauch im Gottesdienst entstanden sein.
1.3.2 Frömmigkeit
Der Begriff der „Frömmigkeit“ gehört gegenwärtig nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch, auch gibt es keine selbstverständliche Übereinkunft über seine Definiton1. In dieser Arbeit aber kommt er als ein Aspekt der Untersuchung von Passionsliedern vor als Frage nach der „Passionsfrömmigkeit“, die in ihnen Ausdruck findet.
Innerhalb der Kulturwissenschaften versteht man gegenwärtig unter „Frömmigkeit“ eine „spezifische und irreduzible Form kultureller Rezeptivität und Produktivität“, eine „in einer individuellen, doch stets in Wechselbeziehung mit sozialer und kollektiver Praxis sich ausbildende und verändernde Lebensgestalt“.2
Evangelischen Liedern sind zwei Bewegungsrichtungen zueigen: Einerseits prägen sie das christliche Leben an verschiedenen Orten der individuellen und der kollektiven Glaubenspraxis und üben so auf den Glauben und die Glaubensweise eine Wirkung aus. Andererseits erwachsen sie in ihrem Entstehungsprozeß aus der Glaubenshaltung des Dichters und können somit ein Ausdruck einer bestimmten, u.a. durch die jeweilige Gegenwart bedingten Haltung sein. Deshalb haben diese Lieder in ihrer „Rezeptivität und Produktivität“ einen wesentlichen Anteil an der Frömmigkeit ihrer Zeit.
Im gegenwärtigen Sprachgebrauch wird der Begriff der „Frömmigkeit“ uneindeutig verwendet. In der Umgangssprache sind oft Vorbehalte mit ihm verbunden, die darunter „ein überständig gewordenes Verhalten (verstehen), das sich auf lebensweltlich unerhebliche, privatistische Innerlichkeit beschränkt oder sich an bloß konventionelle Formen der Religionspraxis hält“ und religiöse Überzeugungen unter Illusionsverdacht stellt3.
In der theologischen Literatur wird der Begriff – ohne eine Entwertung – in verschiedenen Zusammenhängen verwendet, seien es kirchengeschichtliche oder exegetische, seien es praktisch-theologische, soziologische oder religionspsychologische Zusammenhänge4, hier ist festzustellen, daß kein übereinstimmendes Verständnis oder eine allgemeingültige Definition vorliegt. Die Tendenz geht allerdings auch hier dahin, die besonders durch eine etwas einseitige Rezeption von Schleiermacher in seinem Verständnis vom „frommen Selbstbewußtsein“ des Menschen geförderte Eingrenzung der Frömmigkeit auf das Innere des Menschen und die daraus erwachsene psychologische Deutung dominieren zu lassen und dem Begriff seine theologische Relevanz zu entziehen.
In dieser Arbeit soll die Frömmigkeit über die funktionale Beschreibung der Kulturwissenschaften hinaus theologisch verstanden werden als die Beschreibung des erfahrenen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch aufgrund des rechtfertigenden Handelns Gottes am Menschen in Christus.
„Frömmigkeit“ ist in seiner theologischen Bestimmung ein ureigen evangelischer Begriff, von Martin Luther aus seinem ursprünglich profanen Zusammenhang in den christlichen übertragen. In seinem profanen Verständnis ist er von ahd „fruma“ (Vorteil, Nutzen) hergeleitet, mhd „vrum“ (nützlich, tüchtig, rechtschaffen) und so bezeichnet „vrumkeit“ eine ehrenhafte, rechtschaffene Lebensweise.
Bezeichnend für Luthers Verständnis ist seine Übersetzung des δίκαιος in Lk 23,47: „Wahrlich, dieser ist ein frommer Mensch gewesen“5.
Besonders in seiner Freiheitsschrift verwendet er bestimmte, häufig wiederkehrende Formeln synonym, die die inhaltliche Bedeutung des Begriffes „fromm“ deutlich machen: „gerecht und fromm“, „fromm und wahrhaftig“, „fromm und selig“.
Frömmigkeit erwächst nicht aus einer bestimmten Handlungsweise: Kein „eußerlich ding“ macht den Menschen „frey noch frum“6, sondern „das man von hertzen glaubt, das macht eynen gerecht und frum“7.
Nicht gute Werke sind die Quelle der Frömmigkeit, sondern wo die Seele „das wort gottis, von Christo geprediget“ hat, ist sie „frum“ und „frei“8. Das Wort bleibt nicht außerhalb der Seele, sondern schon in den Formulierungen Luthers klingt eine erste Stufe zu einer innigen Verschmelzung der Seele mit dem Geglaubten an; er kann davon sprechen, daß es für die Seele das Evangelium ist, „darynen sie lebe“9. „Das ist nimant dan der glaub des hertzen, der ist das haubt und gantzis weßens der frumkeyt“10
In der Erkenntnis Gottes als „Wahrheit und Frömmigkeit“ liegt der Ursprung der menschlichen Frömmigkeit: „wenn die seele gottis wort festiglich glaubt, ßo helt sie yhn fur warhafftig, frum und gerecht“, dann hält Gott sie auch für „frum und warhafftig durch solchen glauben“.11
Die Frömmigkeit des Menschen ist christologisch begründet. Luther sagt über Christus: „seine frumkeyt (ist) unübirwindlich, ewig und almechtig“12. Dabei ist Frömmigkeit hier eine direkte Übersetzung der Gerechtigkeit: „Eiusque iustitia, vita, salus insuperabilis, aeterna, omnipotens est“13. Der Glaube des Christenmenschen ist „sein leben, frumkeyt und seligkeyt“14. Dies beruht auf dem Kreuzesgeschehen, aufgrunddessen das Herz glaubt, „Christus frumkeit sey sein, und sein sund sein nymmer sein, sondern Christi“15. Die enge Verbindung von Kreuzesgeschehen, Glaube und Frömmigkeit schlägt sich in einem forensischen Verständnis auch der Frömmigkeit nieder, die in der häufig wiederkehrenden Formel „Frömmigkeit vor Gott“ sichtbar wird und deren Analogie zur Gerechtigkeit deutlich macht: Der Glaube allein ist die „frumkeyt fur gott“16. Christus ist der Mittler der von Gott geschenkten Frömmigkeit: Gott gibt durch Christus aus Barmherzigkeit „vollen reychtumb aller frumkeyt und selickeyt“17.
In der Freiheitsschrift findet sich häufig auch das Gegensatzpaar „fromm oder böse“, das Luther auf die Handlungsebene bezieht: Frömmigkeit findet auch nach seinem Verständnis ihren Ausdruck in guten Werken, die aber nicht die Frömmigkeit konstituieren, sondern Konsequenz aus ihr sind.18 Mit noch weiter gefaßter Bedeutung verwendet Luther „Frömmigkeit“ auch in der Weise, daß sie die gesamte Erscheinungsweise des christlichen Lebensvollzuges benennt.
Dieser Aspekt der Frömmigkeit war von Karl Barth als Ansatzpunkt für seine Ablehnung und Entwertung der Frömmigkeit als Sünde genommen worden. Darin erfaßt er aber nicht ihr ganzes Wesen, sondern nur eine Verkehrung der Frömmigkeit durch ihre Verselbständigung und Ablösung von ihrem Geber, die sie als menschliches Verhalten begreifen läßt. Diese Gefahr war schon von Martin Luther gesehen worden, der auch sagen konnte, „menschliche Frömmigkeit“ sei „eitel Gotteslästerung“19.
Für ein Verständnis von Frömmigkeit im Sinne des evangelischen Glaubens ist entscheidend, daß Frömmigkeit nicht zuerst als ein menschliches Verhalten oder seine innere Disposition zu begreifen ist, sondern daß Gottes Frömmigkeit, anders: Gottes Gerechtigkeit, am Beginn des Heilsgeschehens am Menschen steht. Christi Frömmigkeit wird dem Menschen mitgeteilt über das Geschehen am Kreuz. Sie macht den, der daran glaubt, „fromm und gerecht“. Der fromme Mensch ist der vor Gott gerechtfertigte Sünder.
Gott selber als Urgrund und Geber der Frömmigkeit wird ca. 100 Jahre nach Luther im Lied „O Gott, du frommer Gott“ von Johann Heermann benannt. Auch bei ihm wird deutlich, daß in Gottes Frömmigkeit seine Eigenschaft als „Brunnquell guter Gaben“ begründet liegt. Auch Heermann bestimmt diese „beneficia“ (Melanchthon) als „unverletzte Seel und rein Gewissen“, also in einer