Die Hauptlinien der Argumentation Luthers
cognitio sui
Die Bewegungsrichtung auf ein Ziel gerichtet, die cognitio sui. Ihr Wert und Sinn ist die Selbsterkenntnis.
Die Betrachtung dient dazu, am Gegenüber sich selbst zu erkennen. Die eigene Sünde vor Gott erkennen, die eigene Verlorenheit ist erkennbar an dem Ausmaß des Zornes Gottes, der sich hier zeigt. Es wird offenbar zum Einen an der Schwere des Leidens Christi. Zum anderen an der Tatsache, daß der geliebte Sohn dies tragen muß. Der Gedanke folgt dem Prinzip der Überhöhung: Wenn schon der geliebte Sohn und dazu noch einer, der ohne Sünde ist, solche Strafe zugemessen bekommt, wieviel mehr müßte ich vor Gott schuldiger Mensch an Strafe entgegennehmen. Das Schicksal Christi dient also als Sündenspiegel.
Dabei geht es, wenn man der Argumentation Luthers folgt, nicht um ein neu erworbenes Wissen „Ich bin ein Sünder“, sondern darum, daß den Betrachter die Erkenntnis trifft, daß „Ich“ es bin, um den es hier geht; der Betrachter stellt einen Bezug zwischen sich und dem betrachteten Geschehen her. Er sieht sich selbst in den Vorgang hineingenommen.
Darin entspricht dieses Erkennen dem vorausgegangenen Wort „… was hilfft dichs, das gott got ist, wan er dier nit eyn got ist?“ Was hilft es dir, dich als Sünder zu wissen, wenn du die Sünde nicht auf dein Gottesverhältnis beziehst?
Cognitio sui bedeutet also strenggenommen: Das Ich erkennt sich in seinem Verhältnis zu Gott und zu dem Leiden Christi. Die Beschaffenheit des Gottesverhältnisses wird am Leiden offenbar. Es handelt sich also um keine absolute Selbsterkenntnis, sondern eine relative. Sie bedeutet den Beginn einer Begegnung mit dem Gekreuzigten.
Der Erkenntnisweg
Die gewonnene Selbsterkenntnis bleibt aber nicht bei sich selber stehen: Nachdem der Betrachter im Leiden des Gekreuzigten sich selbst in seiner Verfassung vor Gott erkannt hat, über sich erschrocken ist und im Gewissen leidet1, soll er von sich weg blicken, wieder hin zum Gekreuzigten, von dem her sein Blick auf sich selber gelenkt worden ist. Der erneute Blick auf Christus eröffnet weitergehendes Erkennen: Der Betrachter sieht das liebende Herz Christi, durch dieses hindurch erkennt er das Herz des Vaters, das voll Liebe ist. Nachdem am Beginn der Zorn Gottes über die Sünde stand, folgt nun die Erkenntnis Gottes als gütigen, liebenden Vater. Die Erkenntnis von Zorn und Liebe, d.h. eine doppelte Gotteserkenntnis vollzieht sich also in der Betrachtung des Gekreuzigten.
Der Zorn Gottes und seine Liebe gehören bei Luther zueinander. Schon in der Ersten Psalmenvorlesung hat er seine Christologie dargelegt, nach der im Kreuz Christi sich Zorn und Liebe als konstitutiv für das Rettungshandeln Gottes am Menschen erweisen. Das Zorngericht am Sohn ist nach seinem Verständnis das opus alienum Gottes, der darin das opus proprium verwirklicht. Durch das Gericht, das er an ihm vollzieht, führt er ihn zum Leben. So ist es sichtbar an Christus, und so gilt es für den Menschen, der sich diesem Gericht unterwirft und Gott in seinem Urteil über ihn recht gibt. Christus zieht den Menschen hinein in sein Leiden, Sterben und Auferstehen.
Es scheint, daß Luther in der Darstellung des Erkenntnisweges von den Hoheliedpredigten Bernhards herkommt. Bernhard versteht die Seitenwunde, die auf das durchbohrte Herz Jesu verweist, als Wunde, in der die Liebe Gottes sichtbar wird: „Patet arcanum cordis perforamina corporis, patet magnum illud pietas sacramentum, patent viscera misericordiae dei nostri“2. Durch nichts konnte die hier offen erkennbare Liebe deutlicher werden als durch die Wunden Christi, betont Bernhard. In dieser Tradition stehend hat Luther aus ihr doch ein eigenes christologisches Konzept entwickelt.
conformatio
Nach dem Sermon ist die Selbsterkenntnis des Betrachters des Leidens Christi letztlich der Schlüssel dazu, Christus gleichförmig zu werden.
Der Selbsterkenntnis, die durch Erschrecken vor sich selbst ausgelöst wurde, folgt der Verlust aller Zuversicht auf „creaturen“ und aller Möglichkeiten, sich vor den Folgen der Sünde zu bewahren, am Ende steht die Erfahrung der Gottverlassenheit. Das durch die Betrachtung des Gekreuzigten ausgelöste Leiden im Gewissen ist das Erleiden der Gottverlassenheit, das Christus erlitt. Durch dieses Leiden wird der Mensch christusförmig.
Dieser Prozeß des Gleichförmig-werdens ist in der Tradition verankert. Die conformatio, die in der spätmittelalterlichen Passionsbetrachtung zum allgemein verbreiteten Denkschema geworden ist, entspricht dem hier im Sermon beschriebenen Prozeß.
In der Tradition erreicht der Betrachter die conformatio dadurch, daß er sich selber in das Geschehen hineinversetzt, es mitempfindet und in der Nachfolge Christi in seinen Tugenden sich selber ihm gleichförmig macht. Der große Unterschied dazu bei Luther besteht nun darin, daß hier nicht das eigene Handeln zur Erlangung der Gleichförmigkeit führt, sondern sich das Leiden im Gewissen an dem Betrachter ereignet. Luther weist darauf hin, daß es Gott ist, der das rechte Erkennen schenkt, das zum Leiden im Gewissen führt. Es steht nicht im Bereich der Möglichkeiten des Menschen diese conformatio herbeizuführen.
So hatte es Luther schon in der Psalmen-Vorlesung entwickelt: Christus wird in seinem Leiden uns zum Exempel. Aber nicht wir bilden uns diesem Vorbild nach, sondern Gott bildet uns nach dem Bild Christi. Die Beziehung der Gleichförmigkeit liegt allein in Gottes Tat.3
Allein Gottes Handeln
Der Sermon Luthers ist durchwoben von Hinweisen darauf, daß Gott in der fruchtbaren Betrachtung der Passion am Menschen wirkt. Gott wirkt die cognitio sui, Gott erweicht das Herz (Gliederungspunkt 9). Gott schenkt das „Werk des Leidens Christi“, das Absterben des alten Menschen, die wesentliche Wandlung (10), die Neugeburt, die conformatio. Sogar oft ohne daß wir es erkennen (11). Gott schenkt den Glauben (14), mit dem wir unsere Sünden fort aus dem Gewissen, auf Christus schütten. (12)
Es erweist sich, daß Luther die Passionsbetrachtung und ihren Nutzen in ihrer Gesamtheit als Handeln Christi am Menschen versteht: Hierin besteht das grundlegend Neue bei Luther. Nicht mehr der Mensch ist es, der sich auf den Weg der Betrachtung der Passion begibt, um sich dadurch verdienstvoll das meritum seines Leidens zuzueignen, nein, hier ist das Geschehen in der Betrachtung des Leidens Christi allein Handeln Christi am Betrachter.
Abgeschlossenheit der Passion
Luther betont die Abgeschlossenheit des Geschehens: Die Sünden sind auf ihn geworfen und von ihm überwunden und tot. Es sind nun auch an ihm keine Schmerzen mehr. Das Geschehen ist vergangen. Präsent ist die Freiheit von Sünden, die Neugeburt, die Gleichgestaltung nach ihm, wir sind gerecht. Du „… sihest itzt keyne wunden, keyne schmertzen an ihm, das ist keyner Sunde anzeygung“ (13)
Es wird im Verlauf der Untersuchung sich zeigen, inwieweit das Verständnis von dem Leiden und Sterben Christi in seiner Abgeschlossenheit sich weiterträgt.
Sakramentales Geschehen
Leiden und Sterben Christi werden von Luther hier als sakramentales Geschehen verstanden: In seinem Leiden werden die Sünden offenbar und erkannt, mit seinem Sterben nimmt er sie mit in den Tod. Und wir sind ihrer ledig. Darin geschieht die Geburt des neuen Menschen, der Christus nachgebildet ist. Bei der ersten Erwähnung der Neugeburt benennt er noch die Beziehung zur „wesentlichen Wandlung“ des Menschen als eine Vergleichbarkeits-Beziehung (10). Später allerdings, nach der Beschreibung der Gotteserkenntnis, zu der der Betrachter durch das Blicken in Christi Herz gelangt, kann er sagen: „… und ist der mensch alßo warhafftig new ynn got geporen“ (14). Indem wir so durch Christus zum Vater gezogen worden sind, hat eine Neugeburt wie die in der Taufe stattgefunden.
Am Ende spricht er explizit davon, das Leiden Christi