Den Begriff des „neuen Liedes“ stellt er mit dem Babstschen GB einer Liedersammlung, der letzten, die er mit einer Vorrede versieht, voran. Dadurch verleiht er dem Gesang dieser Lieder eine besondere Bedeutung: Es geht nicht nur darum, die ja auch vor der Reformation bestehende Tradition des Singens in der Kirche fortzusetzen, nicht nur bestehendes zu erneuern, sondern mit dem GB dem gerechtfertigten Menschen in seinem neuen Sein in Christus eine theologisch angemessene Möglichkeit des antwortenden Handelns zu geben.
Singen in christologischer Begründung
Das Singen als Antwort auf das Heilswerk Gottes ist durch dieses inhaltlich bestimmt:
So ist Singen bei Luther immer darauf gerichtet, die beneficia Christi zu besingen.1 Die Gott loben, loben allein „Gottes gnade, werck, wort und macht jnn Christo erzeigt, das ist jhre predigt, gesang, lob und lied.“2 So weist er auf Christus als Grund des Singens: „das wyr auch uns moechten rhuemen, … das Christus unser lob und gesang sey, und nichts wissen sollen zu singen noch zu sagen, denn Jhesum Christum unsern Heyland“3. Darüber hinaus ist es – durch sein Heilswirken am Menschen – Christus selber, der dessen Singen auslöst: „Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solchs mit Ernst gläubet, der kanns nicht lassen, er muß fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, daß andere es auch hören und herzukommen …“4
Das Evangelium als tragender Grund der Musik
Über die an das Wort gebundene Musik hinaus legt Luther der Musik an sich theologische Qualität bei. Er nimmt die traditionelle Unterscheidung von musica naturalis und artificialis auf: „naturalis“ als die Musik, die als Harmonie des Kosmos a priori existent ist und „artificialis“ als die vom Menschen erzeugte Musik, die später mit der musica instrumentalis, also der durch Instrumente hörbar umgesetzten Musik gleichgesetzt wird. Diese bezeichnen keine unterschiedliche Wertstufe, sondern sind deskriptive Begriffe.
Luther nimmt die Begriffe auf und bewertet sie neu: „Wo aber die natürliche Musica durch die Kunst gescherfft und polirt wird, da sihet und erkennet man erst … mit grosser verwunderung die grosse und volkomene weisheit Gottes in seinem wunderbarlichen werck der Musica“1.
Die musica artificialis als Erkenntnisgrund der göttlichen Vollkommenheit findet zu seiner Zeit in der Musik des Komponisten Josqin dés Pres (1440–1521) ihren Höhepunkt, dessen Kunst als vollkommene Erfüllung des Anspruches der Musik als klingender Kosmos angesehen wird.
Anhand der Musik Josquins führt Luther sein theologisches Anliegen in den Diskurs ein. Er versteht seine Musik als Abbild des Evangeliums: „Was lex ist, geht nicht von stad, was evangelium ist, das gett von stad. Sic deus praedicavit evangelium etiam per musicam, ut videtur in Josquin, des alles composition frölich, willig, milde (freigebig) heraus fleust, ist nitt gezwungen und gnedigt (genötigt) per regulas sicut des fincken Gesang.“2
In seinem Verständnis ist die Musik Josquins, die sich von den einengenden Banden der kompositorischen Regeln befreit hat, Gleichnis für das Evangelium.
Josquin ist bei Luther „Der Noten Meister“ im Gegensatz zu anderen, die er als Diener der Tonsetzungsregeln versteht.
Die interne Stimmigkeit der Musik hängt nicht allein an einer dem Wortsinn angemessenen auslegenden Darstellung eines Textes mithilfe musikalischer Symbole, sondern darin, daß sie diesen „mit den Eigenansprüchen genuin musikalischer Gestaltung paaren kann, (so) gelingt ihr eine artifizielle Dichte, die mehr ist als die Erfüllung reiner Satzregeln“3
Aus der Perspektive der Musikwissenschaft wird die musikgeschichtlich weitreichende Wirkung der Werke Josquins damit begründet, daß er der Musik als Musik, als ästhetisches Kunstwerk, nicht nur als Dienerin eines Textes, eine eigene Ausdrucksmöglichkeiten verschaffte. In der Freiheit der Kunst vom Gesetz, „darin, daß Josquins Musik nicht „per regulas“ konstruiert ist, entdeckt also Luther die Parallelität zum Evangelium.“ Und er sieht in der Faktur der Musik das Evangelium selber verwirklicht.
2.1.2.2 Lieder in den Anfängen der Wittenberger Reformation
„Ein neues Lied wir heben an“
Als erstes evangelisches Lied gilt das Lied Luthers von 1523: „ein Lied von den zween Marterern Christi / zu Brüssel von den Sophisten von löuen verbrant“1.
Zwei Mönche waren der Anlaß: Sie waren auf dem Brüsseler Marktplatz verbrannt worden, nachdem die Inquisition das Kloster der Augustinereremiten in Antwerpen, die sich der Lehre Luthers zugewandt hatten, zerstört und Widerruf gefordert hatte. Diese beiden mußten ihre Weigerung mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bezahlen.
Dieses Lied kann man exemplarisch für die ersten evangelischen Lieder betrachten:
Es transportiert antirömische Polemik, indem die den beiden abgesprochene römische Priesterweihe als „des teufels larvenspil und spott“ bezeichnet wird oder indem mit dem Vers „Der höchste irrtum dieser war: man muß allein Gott glauben“ römische Theologie lächerlich gemacht wird.
Die Funktion der Lieder als Selbstvergewisserung im neuen Glauben, wenn man singt: „Sie han die kron erworben, recht wie die frommen Gotteskind für sein wort sind gestorben“ oder wenn ihr Martyrertod als Gnade und „rechte“ Priesterweihe bezeichnet wird: „Sich selbs im mußten opfern da und gen im Christen orden“.
Die Funktion der Verkündigung des Wirkens Gottes in der Gegenwart: im Sterben der beiden hat Gott „sein wundermacht bekannt“, denn sie gingen ins Feuer „mit Gottes lob und singen; der Mut ward den sophisten klein für disen neuen dingen, daß sich Gott ließ so merken“. Der Tod der Martyrer wird als Beginn der erneuerten Offenbarung Gottes verstanden: „Wir sollen danken Gott darin, sein wort ist wider kommen. Der sommer ist hart vor der tür, der winter ist vergangen, die zarte blümlin gen herfür: der das hat angefangen, der wird es wol vollenden.“ Hier zeigt sich in Ansätzen die Perspektive, unter der die reformatorische Bewegung schon im 16. Jh. betrachtet werden wird: Reformation als eschatologisches Ereignis, als Anbruch der Gottesherrschaft, die sich u.a. im letzten Aufbäumen des Antichristen zeigt. An das eschatologische Singen erinnert auch die erste Zeile des Liedes „Ein neues Lied wir heben an“, indem es mit dem Begriff des „neuen Liedes“ aus den Psalmen 96, 98, 149 das reformatorische Singen mit dem des zum Heil befreiten Gottesvolkes identifiziert.
Die Verbreitung der Lieder Luthers
Diese drei Eigenschaften des evangelischen Singens prägen die erste Zeit der Ausbreitung der Reformation und die mit ihr einhergehende Verbreitung der entstehenden Lieder.
Im selben Jahr, in dem sein erstes Lied entstand, äußert Luther in seiner Formula missae das Anliegen, daß es mehr Lieder, besonders Psalmlieder, mit deutschem Text geben solle. Gleichzeitig wurde er selber tätig: Es entstehen im Zeitraum Ende 1523 / Anfang 1524 24 Lieder aus seiner Feder.
Die zuerst entstandenen Lieder werden schnell bekannt. Sie sind zunächst als Einzelblattdrucke verbreitet worden, waren dann Bestandteil des ersten Gesangbuches, dem Achtliederbuch, das 1524 in Nürnberg erschien. Darin sind „Nun freut euch“ (1523), in dem Luther balladenhaft die Heilsgeschichte erzählt, und drei seiner Psalmlieder, z.B. „Aus tiefer Not“ (1524) und „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ (1524), in denen er Psalmen bereimt und mit einer evangelischen Deutung versieht.
Über die Art und Weise der Verbreitung gibt es Berichte. Sie zeugen großenteils davon, daß das Singen evangelischer Lieder eine Weise des Widerstandes war; so sang 1524 in Magdeburg ein alter Tuchmacher „Aus tiefer Not“ und „Es wolle Gott uns gnädig sein“ und verkaufte Einzelblattdrucke dieser Lieder. Er wurde verhaftet.1 Im selben Jahr wurde aber Magdeburg als erste norddeutsche Stadt evangelisch.
Die Lieder nahmen ihren Weg über die Hansestädte aufgrund ihres regen Kontaktes untereinander.