Auch an anderer Stelle geht Luther auf die Überwindung der Anfechtung ein. Dabei versteht er die Tat Christi der Überwindung der Anfechtung am Kreuz als Ermöglichung für unsere Überwindung der Anfechtung. Nur indem Christus überwunden hat und uns in sein Leben hineingezogen hat, können auch wir der Anfechtung begegnen und sie überwinden.1
Es erscheint m.E. als konsequent, nun auch im Blick auf den Schluß des Sermons die dort ausgeführte Nachfolge im Handeln nach dem Vorbild Christi ebenso sakramental zu verstehen, da ja auch dieses menschliche Handeln aus Christi Leiden und Auferstehen hervorgeht und demnach durch Handeln Gottes am Menschen bewirkt ist.
Dogmatische Verankerung
Der Sermon hat einen erbaulichen Charakter, dennoch ist der dogmatische Grund, auf dem er steht, deutlich profiliert.
a) Gotteseigenschaftenlehre: Luther nimmt Bezug auf die Lehre von den Eigenschaften Gottes. Er spricht von „Gewalt“, „Weisheit“ und „Liebe“ (14). Er legt also die scholastische Dreiheit von Allweisheit, Allmacht, Allgüte zugrunde. Aber er nimmt eine Bewertung vor, gewichtet sie in ihrer Relevanz für den Menschen. Für ihn sind die relativen Gotteseigenschaften, die auf den Menschen bezogene Eigenschaft der „Güte und Liebe“ von Bedeutung. Luther zieht hier die Konsequenz aus dem, was er zu Beginn sagte: Gott für Gott halten ist irrelevant, wenn „er dier nit eyn got ist“ (3). Er schlußfolgert: Die für den Menschen relevante Eigenschaft ist die Liebe Gottes. Diese erkennt der Mensch in der Betrachtung von Christi Leiden: der Glaube sieht nicht mehr auf das Leiden und die eigenen Sünden, d.h. nicht auf die äußere Häßlichkeit des Leidenden, „foeditas“, die ja Abbild der eigenen Sünden ist (vgl. unten Sermo 2), sondern er erkennt das Herz voller Liebe Christi und des Vaters, d.h. er sieht „species et forma“.
b) Trinität: Explizit formuliert Luther trinitarische Grundaussagen: Es ist Gottes Sohn, der selbst leidet; nicht etwa nur der Mensch Jesus, so spricht er die Passion vom doketischen Verdacht frei. Es ist der Sohn, der die ewige Weisheit des Vaters ist. (4) Daß es sich also beim Sohn Gottes um ein durch die Taufe oder gar erst die Auferstehung zum Gottessohn adoptiertes Geschöpf handelt, ist damit nicht denkbar. Sondern es ist der präexistente Gottessohn, dessen Werk die Schöpfung ist. Es ist der Sohn, dem der Vater die Majestätseigenschaften mitgeteilt hat (communicatio idiomatum). Dies ist der erste Hinweis darauf, daß nach Luthers Verständnis am Kreuz Gott selber leidet. An späterer Stelle (10) spricht Luther dann explizit vom Leiden Gottes.
c) Es wird erkennbar, daß Luther die Zweinaturenlehre konsequent durchdacht hat: Christus spürte am Kreuz die Gottverlassenheit. „… gleych wie Christus von allen, auch von got verlaßen war“ (10). Luther sieht die Menschheit Christi darin verwirklicht, daß er am Kreuz alle Zuversicht verloren hatte, bis dahin, daß er die Verlassenheit von Gott spürte, die den Menschen in seinem Sterben erwartet. Darin ist er ihm gleich geworden, wie ihm der Mensch umgekehrt durch die Betrachtung des Gekreuzigten in der conformatio auch darin gleich wird.
Diesen Gedanken hat er schon in der ersten Psalmvorlesung entwickelt. Christus zeigt „… die betende und zitternde Angst …, von Gott verworfen zu sein.“1. Aus seinem Beten von Ps 22,2 erkennen wir, daß er die Not der Gottverlassenheit spürt.2 Er erlebt die Not des vor Gott schuldigen Gewissens3. Er ist über den Ausgang des Geschehens im Ungewissen4.
Darin geht er über die Tradition hinaus, nach der Jesus am Kreuz allein körperliche Schmerzen erleidet, aber nicht die Gewissensschmerzen, und die wahrhafte Gottverlassenheit, die der Mensch als Sünder tragen muß. Luther übernimmt nicht die Rücknahme der Menschheit Christi in der Situation des Sterbens, die die Tradition um seiner Sündlosigkeit willen behaupten mußte, sondern betont gerade hier sein Menschsein, um so deutlich werden zu lassen, daß Christus auch von der eigentlichen Not des Menschen angefochten war, von der Not des schuldigen Gewissens. Dies tut er um der soteriologischen Aussage willen, daß gerade in dieser Not Christus an die Stelle des Menschen treten kann.
An dieser Stelle wird deutlich, welche Bedeutung in Luthers Theologie die Betrachtung des Leidens Christi für das Heil des Christen hat; es geht hier nicht allein um den Erwerb der Sündenvergebung in der Zeit, sondern um die grundlegende Wandlung zum Gerechten vor Gott.
Beziehungsgeschehen
Es zeigt sich, wenn man ansieht, in welcher Weise – dem Sermon folgend – der Mensch durch das Betrachten des Leidens Christi vom Sünder zum Gerechten wird, daß die Betrachtung den Charakter eines Beziehungsgeschehen zwischen dem Betrachter und dem leidenden Christus hat, an dessen Ende steht, daß der Mensch wesentlich verändert wird.
Es ist im Kern nicht mehr, wie vordem, eine Methode, nach der der Betrachter die von Christus erworbenen Heilsgüter sich selbst anrechnen lassen kann, um Sündenschuld auszugleichen. Es liegt nicht mehr ein planvolles, methodischen Schritten folgendes Handeln des Betrachtenden vor. Sondern in der Betrachtung nach Luthers Darstellung geschieht die Begegnung von Gott und Mensch. Die neue Situation vor Gott ist nun nicht durch die Abwesenheit von Sünde gekennzeichnet, sondern dadurch, daß der Mensch „wesentlich“ verändert, neu geboren ist. Es ist eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch konstituiert und in dieser besteht das Heil.
Dies geschieht nach dem Sermon in folgender Weise: Der erste Schritt ist, daß der Mensch sich dem aussetzt, was er sieht, das Leiden Christi, und daß er mit Schrecken erkennt, daß er es ist, der dies hervorgerufen hat. Die Folge ist nun, daß er sich diesem Schrecken nicht mehr entziehen kann. Er verliert alle Zuversicht in sich und in geschaffene und durch eigenes Handeln umsetzbare Wege, die Sünde zu bereinigen. Luther führt dazu an: Messen, Fasten, Psalmen beten.
An dieser Stelle hört er auf zu handeln und Gottes Handeln setzt ein: er läßt den Menschen im Gewissen leiden. Er macht den Menschen darin christusförmig. Er schenkt ihm den Glauben, die Sünde auf Christus werfen zu können und sie dadurch vernichtet zu sehen. Er zieht den Menschen in der Betrachtung Christi zu sich und zu der Erkenntnis seiner Liebe. Der Mensch wird so zum Sündenfeind. Er ist ein anderer, er ist neu geboren, er will nicht mehr sündigen.
Das heißt: Der Betrachter geht anders und neu aus der Betrachtung hervor, und das liegt darin begründet, daß er von Gott in seiner Beziehung zu ihm „wesentlich“ verwandelt worden ist.
Dies wird auch sichtbar in der zu Beginn von Luther formulierten Voraussetzung: Sinn liegt in der Beschäftigung mit der Passion, wenn man sie auf sich selbst bezieht: Er ermahnt den Leser, der sich anschickt, die Passion Jesu zu bedenken, sie auf sich selbst zu beziehen. Das Für-wahr-halten der Wahrheit Gottes ist irrelevant, wenn „er dier nit eyn got ist“. Ebenso ist das Beziehungsmoment erkennbar an dem Ziel der Betrachtung: Am Ende soll stehen, daß im Betrachter die Gottesliebe geweckt wird. Der neue Mensch ist nun zum Sündenfeind aus Gottesliebe geworden. Mit der Gewichtung der Eigenschaften Gottes, die er vornimmt, wird dies bestätigt: Erkenntnis Gottes bedeutet weniger die Erkenntnis der absoluten Gotteseigenschaften wie Gewalt oder Weisheit, sondern der relativen wie seiner Güte und Liebe.
Luther weist also, indem er das Moment der Gottesbeziehung stark macht, darauf hin, daß das Handeln Christi am Kreuz erst in dem Menschen zur Vollendung kommt, auf den es gerichtet ist. Erst indem der Betrachter das Leiden Christi erkennt, sich erkennt, ihn als den Liebenden erkennt, hat es sein Ziel erreicht.
Der Mensch läßt sich so von Gott verändern, ansprechen, etwas über sich selbst sagen. Läßt sich in Frage stellen, läßt Gott, den anderen, etwas über sich sagen und sich von ihm neu formen. Gottes Handeln am Menschen also konstitutiv dafür, daß das Bedenken der Passion kein imputativer Akt ist, sondern eine Beziehungsstiftung.
Paränese
Der Sermon hat als Thema die Zusage der Neugeburt des Menschen in seiner Betrachtung der Passion Christi. Es ist aber damit der Ernst