Die Passion Jesu im Kirchenlied. Christina Falkenroth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Falkenroth
Издательство: Bookwire
Серия: Mainzer Hymnologische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000157
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Konflikte und Unruhen innerhalb des städtischen Sozialgefüges. Man kann, bezogen auf die Städte, von einer „Reformation von unten“2 sprechen, die von den unteren Schichten ausging, die durch die reformatorische Predigt auf dem Wege des Liedes erreicht worden waren.

      Daß es nicht nur um Widerstand ging, sondern er auch inhaltlich bestimmt war, zeigt ein Beispiel aus Braunschweig (1527): Ein altgläubiger Prediger, der vom Rat der Stadt gegen die evangelische Bewegung eingesetzt worden war, wurde bei seiner ersten Predigt über die Verdienstlichkeit guter Werke durch den Gesang „Ach Gott vom Himmel“ überstimmt. Auch hier fügte sich derRat der Stadt schließlich dem Mehrheitswunsch der Bürger.

      Die reformatorische Bewegung hat sich mithilfe ihrer Lieder ausgebreitet. Dabei hat zu Beginn ihre Bedeutung als Oppositionsmittel eine große Rolle gespielt.

      2.1.2.3 Der Sitz im Leben: Der Gottesdienst

      Lieder in den Gottesdienstordnungen

      In seinen Schriften zum Gottesdienst1 hat sich Martin Luther auch dem Liedgesang gewidmet. Die Formula Missae (1523) behandelt vorwiegend den Wochengottesdienst für Schüler und Theologiestudenten, in dem der lateinische Gesang und die überkommenen lateinischen Ordinariumsstücke zum großen Teil bewahrt werden. Dort schlägt er einige wenige vorreformatorische deutschsprachige Lieder zusätzlich zu den lateinischen Gesängen vor und gibt seinem Wunsch Ausdruck, daß mehr deutsche Lieder vorhanden sein sollen. So schreibt er auch in einem Brief an Spalatin 1524: „Ich bin willens, deutsche Psalmen fürs Volk zu machen, das ist geistliche Lieder, daß das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe“

      In der Deutschen Messe (1526), nach der der Gottesdienst auf deutsch gefeiert wird, schlägt er deutsche Lieder vor: als Introitus ein deutsches Lied oder ein Psalmlied, als Graduale nach der Epistel ein deutsches Lied, nach dem Evangelium sein Lied „Wir glauben all“, während der Austeilung: das deutsche Sanctus, „Jesaja dem Propheten das geschah“, oder sein Lied „Jesus Christus unser Heiland“ oder „Gott sei gelobet und gebenedeiet“, und das deutsche Agnus dei, „Christe, du Lamm Gottes“

      In der Wittenberger Gottesdienst-Ordnung (1533) schlägt er schließlich an sieben Stellen deutsche Lieder vor:

      (1) Als Introitus: substitutiv, also statt des Psalms (nur zu Festzeiten eine lateinische Psalmodie) (2) Nach dem Graduale und dem Halleluja an hohen Festtagen im Wechsel mit der Sequenz (3) Nach dem lateinischen Credo „Wir glauben all an einen Gott“ (4) Nach der Predigt auf das lateinische „Da pacem“ Luthers „Verleih uns Frieden gnädiglich“ (5) Zu Beginn des Abendmahls statt eines Versikels oder einer Kollekte des Pfarrers evtl ein Lied de tempore (6) Sub communione: nach dem lateinischen Sanctus und Agnus dei „Jesus Christus unser Heiland“ und „Gott sei gelobet und gebenedeiet“ (7) Nach der Austeilung das Agnus dei mit Luthers deutschem Text.

      Die Wittenberger Ordnung hat vielfach als Vorbild für andere Ordnungen gedient2. Dennoch sagen diese Ordnungen nicht viel über den tatsächlichen Stand des Gemeindegesanges aus: Berichte von Zeitzeugen belegen für einen weiten Zeitraum im 16. Jh., daß in vielen Gottesdiensten weniger deutsche Lieder vorkamen als in den Ordnungen vorgeschlagen. Es ist auch nicht deutlich, inwieweit die von Luther oder in anderen Kirchenordnungen vorgeschlagenen Lieder tatsächlich der Gemeinde zugeschrieben waren oder ob sie allein vom einstimmig singenden chorus choralis gesungen wurden, der den Gemeindegesang führen und tragen sollte. So formuliert Luther in der DM z.B. nur vom deutschen Credo ausdrücklich: „Nach dem Evangelio singt die gantze Kirche den Glauben zu deutsch / Wir glauben all an eynen Gott“3. Zudem gab es an vielen Orten, besonders auf dem Land, einfache Ordnungen, nach denen die Gemeinde nur wenige Lieder zu singen hatte.

      Gesangbücher

      Nach dem og. Achtliederbuch folgten in kurzer Zeit viele weitere Gesangbücher. Zu ihnen gehören das sog. Erfurter Enchiridion von 1524, mit 24 Liedern, davon 18 von Luther, und im selben Jahr das „Geystliche gesangk Buchleyn“ mit 38 deutschen Liedsätzen von Johann Walter und fünf lateinischen Motetten; hier sind 24 Lieder von Luther aufgenommen.

      Ein erstes Gesangbuch für die Gemeinde war das „Enchyridion geistlicher gesenge vnd psalmen fur die leyen“, in Wittenberg seit 1525 aufgelegt. Von Luthers Hand kam schließlich das „Klugsche Gesangbuch“, „Geistliche Lieder auffs new gebessert zu Wittenberg“ von 1529. Dieses hat Luther durch Gliederung in die Rubriken Kirchenjahr, Katechismus, Psalmen und liturgische Gesänge für den Gebrauch im Gottesdienst gestaltet. Durch viele Nachdrucke gelangten die hier versammelten Lieder in die Gemeinden und bildeten so allmählich einen Liedstamm für den lutherischen Gottesdienst. Dieser wurde dann für annähernd zwei Jahrhunderte gefestigt, indem ein letztes Gesangbuch durch Luther gestaltet wurde: Das bei Valentin Babst 1545 herausgekommene Buch „Geystliche Lieder“.

      Auch in anderen Liedzentren entstanden Gesangbücher: Bei den böhmischen Brüdern, in Straßburg, in Konstanz und in Genf. Auch in diese wurden z.T. Lieder aus dem Umkreis der Wittenberger Reformation aufgenommen.

      Mit dem Singen im Gottesdienst war immer auch der pädagogische Gedanke verbunden, mithilfe der Lieder den Glauben zu lehren. Melanchthon formuliert, die „teutschen Gesänge“ dienten dazu, „das Volk damit zu lehren“ wie „alle Ceremonien furnehmlich darzu dienen sollen, daß das Volk daran lerne, was ihm zu wissen von Christo not ist“1. Diese Absicht setzte Nikolaus Herman um, als er 1560 „Die Sontags Evangelia vber das gantze Jar / Jn Gesenge verfasset/Für die Kinder vnd Christlichen Haußveter“ in Wittenberg veröffentlichte. In ihnen hatte er alle Predigtperikopen in Form von gereimten Erzählliedern in einfache Sprache gebracht, um sie damit für Kinder leichter erfaßbar zu machen.

      Das Singen

      Erst im Laufe des 17. Jh. wurde es üblich, im Gottesdienst aus Gesangbüchern zu singen. Vorher sang man auswendig. Lernort für die evangelischen Lieder war zum Einen die Hausandacht, die zum evangelischen Leben gehörte, auf die schon der og. Titel der Sonntagsevangelia N. Hermans hinweist. Für das häusliche Singen waren die Gesangbücher des 16. Jh. in erster Linie bestimmt; so wurden sie zunächst als Hausgesangbücher, später erst als Kirchengesangbücher bezeichnet.

      Zum Anderen lernten die Schüler die neuen Lieder in Schule und Kurrende. Die Schüler waren es auch, die als „chorus choralis“ den Gesang im Gottesdienst anführten. An den Stellen im Gottesdienst, an denen gemäß der Agende Gesang vorgesehen war, aber die Gemeinde noch nicht mitsang, waren die Schüler allein für den Gesang verantwortlich.

      Ein Kanon von den Gottesdienstteilnehmern bekannten Liedern entwickelte sich langsam; Luthers Klage aus dem Jahr 1545 über die, die beim Gesang „murmelten und brummeten“1, ist überliefert. Zu den Fragen, die Visitatoren in der zweiten Hälfte des 16. Jh. zu stellen hatten, gehörte die an den Pfarrer, welche „teutsche lobgesenge (er) mit der schul und gemeiner kirchen gebrauche und ob auch die gemeine mitsinge“2.

      Die lateinischen Gesänge der Messe waren neben den deutschen Liedern in liturgischen Gesängen und lateinisch-deutsche Hymnen noch bis ins 17. Jh. im Gebrauch.

      Es zeigt sich also an der Geschichte der Kirchenlieder, daß die Reformation auch im Blick auf das evangelische Singen und den Gottesdienst sich nicht als radikaler Bruch mit der Tradition, sondern als ein allmählicher Prozeß vollzog.

      2.1.3 Passionslieder um 1500

      Gemeindelieder um 1500

      Neu am evangelischen Singen ist, daß der Gesang zum konstitutiven Bestandteil der Liturgie wird. Nun ist es die Gemeinde, die zusammen mit dem Liturgen den Gottesdienst vollzieht.

      Dennoch mußten die Gesänge der Gemeinde nicht aus dem Nichts entstehen, denn es gab eine Tradition deutschsprachiger geistlicher Lieder und eine Tradition des Singens der Gemeinde. An diese Tradition hat sich die evangelische Lieddichtung angelehnt.

      Es gibt aus der Zeit vor der Reformation frühe Zeugnisse für eine Beteiligung der Gemeinde oder der Schola Cantorum an der Liturgie durch Gesang. Dazu gehören Kyrieeleison-Akklamationen,