Die Vorrede zu seinem Gesangbuch offenbart zu seiner Zeit unerwartbare poetologische Ansprüche an seine Übersetzungsarbeit, wie sie erst später durch Martin Opitz eine weitere Verbreitung finden: er formuliert bzgl seiner Übersetzungsarbeit, er habe von den aufgenommenen Liedern „den selben sihn / nach gewisser heiligenn schriefft / jnn deutsche reym bracht / die sillaben wort und gesetz also gestellt / dz sich ein jehglichs under seinen zugeschriebenen thon fein singen lest“.4 Die gegenseitige Zuordnung von Textschwerpunkt und musikalischem Schwerpunkt läßt sich in seinem hier behandelten Lied durchaus feststellen.
2.3.2 Der Liedtext
2.3.2.1 Zu Struktur und liturgischer Herkunft
Das Lied ist eine Nacherzählung der Passion Jesu, angefangen von der Verhaftung über seine Todesstunde bis hin zur Grablegung. Ihm liegt der Hymnus „patris sapientia“ zugrunde, an dem sich Weisse weitgehend orientiert. Schon in diesem ist die Darstellung des Geschehens in Strophen gegliedert anhand der Tagzeiten, den horae canonicae aus der monastischen Tradition. Den einzelnen Horen ist je ein Ereignis aus dem Passionsbericht zugeordnet. Diese Zuordnung ist von den zeitlichen Bestimmungen bei den Synoptikern inspiriert (Mk 15,25.33.34 par.)1. In der Hippolyt von Rom zugeschriebenen Traditio apostolica aus dem 3. Jh. wird das Stundengebet zu bestimmten Zeiten empfohlen; in den Apostolischen Konstitutionen des 4. Jh. werden sie den Ereignissen der Passion Jesu zugeordnet. Dementsprechend nehmen die einzelnen Liedstrophen den Inhalt je eines Stundengebetes auf.
Str.1: Gefangennahme um Mitternacht – Vigil / Matutin
Str.2: Verhandlung zur 1. Std (= 6 Uhr) – Prim / Laudes
Str.3: Verspottung zur 3. Std. (9 Uhr) – Terz
Str.4: Kreuzigung zur 6. Std (Mittag) – Sext
Str.5: Todesstunde zur 9. Std. (3 Uhr nachmittag) – Non
Str.6: Kreuzesabnahme zur 12. Std (6 Uhr nachmittag) – Vesper
Str.7: Grablegung am Abend (9 Uhr abends) – Komplet
In der lateinischen Vorlage weisen die Stundenangaben deutlich auf die Horen hin („hora matutina“, „hora vespertina“, „hora complectionis“). Weisse bleibt in der zeitlichen Zuordnung, läßt aber nur noch im Begriff der „Vesperzeit“ die verbale Nähe zur monastischen Tradition bestehen und löst sie in den anderen Strophen durch nüchterne Zeitangaben wie im Bericht des Mk (z.B. „um drei“) ab. Dies kann auf eine größere Nähe des Verfassers zum biblischen Bericht als zur kirchlichen Tradition hinweisen, was angesichts der Zugehörigkeit Weisses zu den Böhmischen Brüdern wahrscheinlich ist.
Dem Lied ist ein deutender Rahmen gegeben, der den Passionsbericht (Strophe 1β – 7) umschließt. Zum Rahmen gehört in der ersten Strophe der dem Lied vorangestellte Christustitel, der Christus in seiner Bedeutung für die Singenden benennt: „Christus, der uns selig macht“. Beschlossen wird das Lied durch eine Strophe, in der er angesprochen und angebetet wird; im Bitten wird die Verbindung zwischen dem Erzählten und den Singenden geschlossen.
2.3.2.2 Der Passionsbericht Michael Weisses
Die erste Strophe berichtet von der Gefangennahme Jesu. Wo der Hymnus das Verhör vor dem Hohen Rat nur im „afflictus“ andeutet, benennt es Weisse mit den Worten „geführt vor gottlose Leut und fälschlich verklaget“ und spricht hier von den falschen Zeugen, die im Hymnus erst in der 2. Strophe gegen den Text aller Evangelisten bei Pilatus auftreten.
Die zweite Strophe stellt das Verhör vor Pilatus dar. Anstelle der im Hymnus benannten falschen Zeugen, der Verletzung und Erniedrigung Jesu setzt er in diesem Zusammenhang die Feststellung der Unschuld Jesu durch Pilatus hinzu und stellt damit etwas heraus, das explizit bei Mt durch den Traum der Frau des Pilatus und bei Lk und Joh „Ich … habe an diesem Menschen keine Schuld gefunden“ (Lk 23,14; ähnlich Joh 19,4) benannt wird. Implizit ist dieser Gedanke auch bei Mk in der Frage des Pilatus „Was hat er denn Böses getan?“ (Mk 15,14; par. Mt 27,23) vorhanden. Außerdem setzt er die Überstellung Jesu zu Herodes hinzu, die lukanisches Sondergut ist.
In der dritten Strophe steht die Verspottung und Geißelung im Mittelpunkt, wie sie bei Mt und Mk berichtet ist. Hier ist bei Weisse wie auch im Hymnus die verhöhnende Inthronisation Jesu durch Mantel und Dornenkrone beschrieben. Den Ruf „crucifige“, den der Hymnus hier verortet, der aber sowohl nach Joh als auch nach den Synoptikern erst danach ertönt, übernimmt Weisse nicht.
Die Kreuzigung ist Thema der vierten Strophe. Sie wird der sechsten Stunde zugeordnet, was nicht den Synoptikern entspricht: Bei Mk wird explizit die dritte Stunde benannt, nach Mt und Lk ist Jesus lange vor dem Eintreten der Finsternis zur 6. Stunde gekreuzigt worden. Nach dem Bericht des Joh liegt die Kreuzigung weit nach der 6. Stunde, zu der Pilatus sich noch darum bemüht, den Ruf des Volkes nach der Kreuzigung Jesu rückgängig zu machen (Joh 19,14).
Dennoch übernimmt Weisse hier die Tradition aus den Stundengebeten, obwohl er an anderen Stellen korrigierend eingreift, wenn der Bericht des Hymnus nicht dem biblischen Zeugnis entspricht.
Weisse setzt in dieser Strophe den Spott der Vorübergehenden und Mitgekreuzigten hinzu und die Finsternis, die nach synoptischem Bericht um diese Stunde eintrat. Hiermit korrigiert er ihre zeitliche Einordnung nach dem Tod Jesu, wie sie im Hymnus zu finden ist.
Die fünfte Strophe beschreibt die Todesstunde Jesu. Der Eli-Ruf (Mt 27,46; Mk 15,34), der im Hymnus auftaucht, obwohl er nicht dem joh Bericht entstammt, an dem der Hymnus ansonsten entlanggeht, ist ebenso bei Weisse zu finden, aber in einer paraphrasierten Übersetzung „klaget sich verlassen“.
An dieser Stelle berichtet Weisse vom Tränken Jesu mit Essig und Galle. Nachdem der Hymnus in der vorhergehenden Strophe von einem Tränken des dürstenden Jesus zur Folter berichtet, „prae tormentis sitiens felle est potatus“, das direkt nach der Kreuzigung stattfindet, hat Weisse dies an die Stelle gesetzt, an der es auch bei Mt und Mk verortet ist. Im Unterschied allerdings zu diesen beiden Evangelisten mischt er dem Getränk Galle bei; diese ist nur bei Mt, aber an anderer Stelle, erwähnt, als Jesus vor seiner Kreuzigung Wein mit Galle vermischt dargereicht bekommt (Mt 27,34; vgl. Mk 15, 23: Myrrhe mit Wein).
Wo der Hymnus, Johannes folgend, im Psalmzitat Ps 31,6 von der Geistübergabe an Gott spricht („animam patri commendavit“), bedient sich Weisse der Sprache der Synoptiker: „da gab er auf seinen geyst“. Hier folgt der Bericht vom Beben, dem zerreißenden Vorhang und den zerklüftenden Felsen, wie er bei Mt gegeben ist, wobei aber nicht auf die Totenauferstehung Bezug genommen ist.
Die sechste Strophe ist der Vesperzeit, der neunten Stunde, zugeordnet. Der Hymnus berichtet, der Tradition des Stundengebetes folgend, von der Kreuzabnahme und fügt theologische Deutungen ein: Der göttliche Geist Jesu ist nicht dem Tod unterlegen, sondern er, die Medizin des Lebens, eine Umformung des altkirchlichen Theologumenon vom pharmakon athanasias, hat sich den Tod unterworfen. Der Gekreuzigte trägt die Ehrenkrone.
Hier greift Weisse stark in den Text des Hymnus ein: Er berichtet stattdessen vom Brechen der Beine der mitgekreuzigten Schächer und von dem Lanzenstich, der Blut und Wasser hervortreten läßt, und deutet dies als Erfüllung der Schrift. Darin folgt er Johannes (Joh 19,36f), der sich diese Ereignisse betreffend hier als Zeuge für die Erfüllung atl Passahtradition bzw. Verheißung versteht. Weisse hebt so die Rede von Blut und Wasser hervor, die für die Feier der Eucharistie liturgisch bedeutsam wurde, obwohl sie in der lateinischen Vorlage nicht zu finden ist.
Erst in der 7. Strophe berichtet auch Weisse von der Kreuzesabnahme und faßt sie zusammen mit der Grablegung Jesu, wie es auch dem biblischen Bericht eher entspricht. Er übernimmt nicht die theologische Rede von Jesus als „vitae spes futurae“, auch nicht die Rede von den Spezereien aus dem lateinischen Text, die nur nach Joh dem Leib Jesu vor seiner