Sie spürte förmlich, wie das letzte bisschen Gefühl aus ihrer Seele wich. Mit dem Verlust des Überlebenskampfes, den sie längst verloren hatte, verflüchtigte sich auch jegliches Gefühl in ihr. Trotzdem redete sie weiter, redete, als ginge sie das alles nichts mehr an: „Wir haben einen Weg in eure Heimat gefunden. Nicht nur unsere Seite, auch unsere Gegner wissen bald von diesem Ort. Es wird nicht aufhören.“
Einen Wimpernschlag schien es, als hätte sie nicht umsonst geredet. Die beiden Scorpios sahen einander an. Siralen spürte Charas Blicke auf sich, ignorierte sie aber.
„Dasss issst eine Lüge, um euer kleinesss, zssserbrechlichesss Leben zsssu retten“, rasselte der Rote.
Fatujen! Sie wusste ja selbst nicht, ob etwas an ihrer Aussage dran war. Es war möglich oder auch nicht, dass weitere Alliierte den Großen Abgrund überwanden. Und ob das Chaosbündnis dies zuwege brachte, war mehr als fragwürdig. Immerhin war Chara bis jetzt die Einzige, die einen Weg wusste, die Sturmfront zu durchbrechen. Sie und Sanduran der Seefahrer, von dem niemand wusste, ob er wirklich existiert hatte.
Aus dem Augenwinkel nahm Siralen eine Bewegung wahr und spähte zu dem Barden. Irwin hatte sich bei Ankunft der beiden Wüstenwesen hinter der Assassinin versteckt und griff jetzt unsicher nach Charas schwarzem Hemdzipfel. Als würde ihn die Tatsache beruhigen, die muskulöse Frau zwischen sich und ihren tödlichen Gastgebern zu wissen. Aber das war nicht der Grund dafür, dass Siralen ihn anstarrte. Tatsächlich war der Barde gerade dabei, sich in das Gespräch einzubringen. Und das überraschte sie einigermaßen.
„Ich glaube, ihr könnt es euch nicht leisten, das, was Siralen gesagt hat, in Frage zu stellen, oder?“, schob er hinterher. „Ihr könnt euch nämlich nicht sicher sein, dass sie lügt. Und wenn es die Wahrheit ist, werdet ihr in Zukunft immer in Gefahr sein. Wir dagegen …“ Er deutete theatralisch auf seine Brust, ohne Charas Hemdzipfel loszulassen. „… könnten euch garantieren, dass euch nach uns niemand mehr stört. Wäre das nicht viel besser als die Möglichkeit, ewig Angst zu haben? Vor Eroberern wie uns …“
Jetzt sah Siralen zu Chara. Die Assassinin sah aus, als könnte sie Irwins Worten etwas abgewinnen. Wieder folgte ein schweigender Blickwechsel zwischen den beiden Scorpios.
„Wir haben keine Angssst. Ihr riecht nach Angssst. Ihr ssseid nur Handlanger. Ihr dient. Ihr führt nicht an.“
Chara befreite ihren Hemdzipfel aus Irwins Umklammerung und machte einen Schritt auf den Roten zu. „Richtig. Wir dienen dem, dem die Blaks freiwillig folgen.“
Ein kurzes Zögern, dann: „Wir werden euch trotzsssdem töten. Ihr ssseid unbrauchbar. Ihr könnt unsss nicht sssagen, was wir nicht längssst wisssen. „
„Aber er könnte es.“
„Wer?“
„Unser Anführer. Der, dem auch Schangra folgte.“
Siralen musterte Chara argwöhnisch. Was redete sie da?
„Er issst nicht hier“, sprach der Rote Siralens Gedanken aus.
„Das stimmt.“ Chara sah aus, als würde sie angestrengt nachdenken.
„Aber es gibt einen Weg, wie ihr mit ihm sprechen könnt“, murmelte sie so leise, dass man sie kaum verstehen konnte.
Der Rote stieß ein verächtliches Zischen aus. Offenbar glaubte er Chara nicht.
„Wie?“
„Mit Hilfe von Magie. Wir können eine Verbindung zu unserem Anführer herstellen.“
War das etwa die Finte einer Assassinin?
„Dann ssstellt diessse Verbindung her“, folgte die erwartete Antwort.
Chara lächelte ihr halbfertiges Lächeln. „Ich habe den magischen Gegenstand nicht bei mir, den ich dafür brauche.“
Das Gesicht des Roten versteinerte. „Dann ssseid ihr nichtsss …“
„Aber ich habe ihn in unserem Lager. Ich kann ihn holen. Zusammen mit dem Mann, der ihn bedienen kann.“
Siralen stellte fest, dass sie Chara mit ihren Blicken förmlich durchbohrte. Sie konnte nur schwer glauben, was die Assassinin da von sich gab.
Schweigen erfüllte das Zelt wie zu dicke Luft. Eine Weile regte sich niemand, und Siralen fühlte die Blicke der Scorpios, die über sie, den Barden und Chara hinwegstrichen. Dann meldete sich erneut der Barde zu Wort.
„Was habt ihr schon zu verlieren?“ Seine Angst schien sich verflüchtigt zu haben. Er klang fast schon vorlaut, obwohl er seinen Kopf deutlich heben musste, um in das Gesicht des gewaltigen Scorpios zu blicken. Und das, obwohl Irwin wahrlich nicht zu den Kleinen gehörte. Vermutlich dachte er, Charas Angebot hätte eine solide Basis. „Wenn ihr Angst habt, dass Chara flieht …“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann könnt ihr immer noch uns umbringen, oder nicht? Und danach kriegt ihr uns sowieso alle dran. Aber wenn sie die Wahrheit sagt, kriegt ihr eure Antworten. Über Schangra, die Tissahnen …“ Er öffnete einladend die Hände: „Na?“
Der Rote wandte sich seinem braunen Begleiter zu. Es wurde kurz gezischelt.
„Du hassst ein Sechssstel desss Sssonnenlaufsss“, sagte er schließlich. „Danach sssterben deine Freunde.“
Siralen knetete ihre Fingerknöchel. Das war kaum genug. Chara musste erst den ganzen Weg zum Lager zurück. Und das war ganz sicher deutlich mehr als einen Steinwurf entfernt. Danach musste die Assassinin noch etwas und jemanden finden und mitnehmen. Und doch, irgendwie fiel Siralen eine Last von den Schultern. Erst jetzt spürte sie, wie angespannt sie tatsächlich gewesen war. Sie hatte zwar keine Ahnung, was Chara vorhatte, ob sie nicht vielleicht einfach nur ihre eigene Haut retten wollte, aber zumindest hatten sie etwas Zeit gewonnen. Wenigstens würde man sie nicht sofort hinrichten. Und gleich, was über Chara geredet wurde, dass sie an ihrem eigenen Leben interessiert genug war, um eine solche Geschichte zu erfinden, war mehr als fraglich. Allerdings war es möglich, dass sie sich selbst für den Erfolg der Mission für unabdingbar hielt. Dann hätte sie in der Tat ein Interesse daran, ihr eigenes Leben zu schützen. Immerhin war sie nach Aussage des Fischkönigs ein Teil des Ursprungs …
Argwöhnisch verfolgte Siralen, wie die beiden Scorpios Chara in ihre Mitte nahmen und sie aus dem Zelt eskortierten. Die Assassinin drehte sich kein einziges Mal nach ihr und dem Barden um. Und das Gefühl, dass ihre Achtlosigkeit in Siralen auslöste, war alles andere als beruhigend.
„Helolilejen!“, seufzte sie und ließ sich auf die Knie fallen.
Chara rannte. Sie rannte so schnell, wie es ihre vom Sitzen und Liegen ungelenk gewordenen Beine erlaubten. Wie lange sie brauchen würde, konnte sie nicht einschätzen. Sie würde sich aber auch keine großen Gedanken darüber machen. Sie hatte ein klares, fassbares Ziel vor Augen und alles, was sie tun musste, um es zu erreichen, war schneller zu laufen, schneller zu packen und schneller zu reden. Darin war sie gut. Und alles andere interessierte sie erst, wenn es soweit war, also erst, wenn sie zurück im Lager der Scorpios war.
Die Geschwindigkeit, mit der sie durch die Wüste hetzte, trieb ihr den Schweiß von den Schläfen ins Haar. Dort oben stand, wie jeden Tag, die gleißende runde Scheibe und stieß ihre Strahlen unbarmherzig auf sie hinab. Unter ihren Stiefeln schien der Sand zu Treibsand zu werden. Sie war zu langsam. Die Schritte zu kurzgegriffen … Sap, sap, sap, machten ihre Stiefel im trockenen Sand. Die Zeit, die Zeit, die Zeit …
Seit Chara denken konnte, rannte sie gegen die Tatsache an, dass es zu spät sein könnte. Zu spät dafür, dass sie ihren Platz einnahm und ihren Beitrag leistete? Dass sie die ihr zugedachte Rolle spielte? Sie hatte immer daran geglaubt, dass des Einzelnen Wert sich an dem Zweck bemaß, den er erfüllte – für das Allgemeine –, aber zugleich glaubte sie, dass nichts eine Rolle spielte. Dass nichts, das getan werden konnte, je maßgeblich für irgendetwas und schon gar nicht für das große Ganze wäre. Die Assassinin in ihr lehnte jegliche Sinnhaftigkeit ab. Aber was war mit Chara? Und was war mit …
Eine