Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende. J. H. Praßl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J. H. Praßl
Издательство: Bookwire
Серия: Chroniken von Chaos und Ordnung
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948695712
Скачать книгу
Chara hatte Darcean mit dem Tode gedroht, sollte er das kleine Geheimnis über die Schwarzen Assassinen ausplaudern. Und dabei war ihr eigenes Verfehlen der Grund dafür gewesen, dass Darcean überhaupt davon erfahren hatte.

      Siralen beobachtete Darcean von der Seite. Ihr Freund schwieg, schien darüber nachzudenken, ob er Chara vertrauen sollte – wenigstens in dieser Angelegenheit. Dann nickte er und sein Blick wurde einen Deut wärmer. Fast sah es aus, als gäbe es zum ersten Mal eine Art Brückenschlag zwischen dem elfischen Druiden und der menschlichen Assassinin.

      Es war noch dunkel. Sie wusste, sie hatte kurz geschlafen. Jetzt war sie wach. Die Erschütterungen, die sie spürte, nahm sie nur am Rande wahr. Ihr dröhnte der Schädel, und die Wüstengegend, durch die sie hindurchglitt, als würde sie schweben, wackelte bedrohlich. Als hätte sie einen ganzen Eimer Jhu-Ju geraucht und keine Kontrolle über die Bilder in ihrem Kopf. Was passierte hier gerade mit ihr? Wieso bewegte sie sich? Träumte sie noch?

      Sie bewegte sich durch die Nacht, eindeutig. Aber sie befand sich in der Waagrechten, und ihr Kopf hing seltsam nach unten. Ihr Genick schmerzte. Ihre Augenlider waren zu schwer, um sie lange offen zu halten, wie kleine, wulstige Sandsäckchen. Die Eindrücke der Umgebung zuckten wie nächtliche Blitzlichter in ihren Verstand. Sand, Düne, Stein, Düne, Düne, Stein …

      Es war anstrengend, den Kopf zu heben. Und unsäglich befremdlich, was sie zu Gesicht bekam, als sie es doch schaffte. Vor ihren Augen wuchs ein menschlicher, nackter Torso in den Himmel. Zu massiv, um tatsächlich einem Menschen zu gehören … Darum war Chara auch schnell klar, was sich unterhalb der Taille befand.

      Sie wurde von einem Scorpio getragen. Sie lag in den Armen eines riesigen Insektenmenschen, der sie vor seiner Brust trug, als wöge sie nicht mehr als ein Kind. Und sie konnte sich deshalb nicht bewegen, weil sie gefesselt war. Die Scorpios hatten sie offensichtlich bewusstlos geschlagen, gefesselt und aus dem Allianzlager gestohlen. Was nicht allzu schwer gewesen sein dürfte. Sie hatte zusammen mit Siralen und Irwin, der den restlichen Abend nicht von ihrer Seite gewichen war, am Rande des Felsplateaus geschlafen.

      Chara versuchte, einen Blick hinter sich und ihren Entführer zu werfen, und erspähte weitere Skorpionmenschen. Mindestens einer davon trug ebenfalls ein verschnürtes Bündel in den Armen. Und wenn sie nicht ganz daneben lag, hieß das Bündel Siralen. Die Elfe trug noch immer den Slarpon, den sie nach Darceans Unfall ohne lange nachzudenken angelegt hatte, um erneut mit dem Feind Kontakt aufzunehmen. Lefnui hatte den nötigen Weitblick gehabt, um zwei der Tiere mitzunehmen. Sie hatten sich allerdings dazu entschlossen, mit der Kontaktaufnahme bis zum nächsten Morgen zu warten. Und da jedes neue Anlegen des Slarpons Risiken barg, schlief Siralen einfach mit dem Tier auf ihrer Schulter.

      Konsequenzanalyse: Man hatte also mindestens zwei Kommandanten der Allianzflotte entführt. Warum? Doch nicht, weil man die Fremden, die ihr Land in Besitz genommen hatten, auslöschen wollte. Die Scorpios waren neugierig geworden, vielleicht wegen der MacDragul, vielleicht wegen etwas anderem. Aber eines war sicher – man hatte sie nicht entführt, um sie zu töten. Man wollte mit ihnen reden. Und sie möglicherweise danach töten. Aber das war zumindest eine Gelegenheit, eine neue Tür, eine unvorhergesehene Wende nach einer Schlacht mit entmutigend blutigem Ausgang.

      Chara richtete ihr Augenmerk erneut auf „ihren“ Scorpio. Er beachtete sie gar nicht, blickte stur gerade aus. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass sie wach war. Und wenn doch, stellte sie keine Gefahr für ihn dar. Gefährlich waren nur die MacDragul – für ihn, sein Volk. Wesen, die sich vom Blut der Menschen ernährten und mehr tot als lebendig waren … Und Siki, ihr Siki, ihr Dad Siki Na, der nun Geschichte war.

      Lomond … Der Name war noch immer wie ein Alarmsignal, das zugleich eine tiefe Sehnsucht in ihr weckte. Und irgendetwas sagte ihr, dass sie nur nach dem MacDragul rufen müsste, um ihn auf den Plan zu bringen Vielleicht war das aber auch nur eine dieser Fantasien …

      Egal. Würde er kommen, um sie und Siralen zu retten, wäre ihre Gelegenheit auf eine Unterredung mit den wohl attraktivsten potentiellen Verbündeten dahin. Dann konnten sie nur noch darauf hoffen, mit ihrem Leben davonzukommen. Und diese Mission war noch lange nicht erfüllt.

      Hier in El’Chan herrschten nicht die MacDragul und nicht die Goygoa. Hier herrschten Wesen, halb Mensch, halb Skorpion. Krieger, wie die Allianz sie sich nur wünschen konnte.

      Was hatte ihnen der Großkönig der Fischmenschen auf dem Grund des Meeres gesagt – über die Bewohner des südlichen Kontinents? Sie wären primitiv und würden ES nicht erkennen. Aber sie wären auch äußerst robust. Die Beschreibung traf für Charas Dafürhalten zumindest auf die Scorpios zu. Und die Schwarzen Assassinen? Es gab immer noch das Seemannsgarn über „verbrannte Menschen im Süden“. Al’Jebal hatte ihnen von ebendiesen erzählt. Und er hatte ihnen erzählt, dass er einige davon angeblich in einer Höhle in Aschran gefunden und zu seinen Schwarzen Assassinen ausgebildet hatte. Chara hatte den Kontinent nicht umsonst nach dem Obersten der Schwarzen Assassinen El’Chan benannt.

      Die Scorpios und die Schwarzen Assassinen – beide Wesen waren hier am südlichsten Punkt der Welt beheimatet, sprich, auf ein und demselben Kontinent. Eines der beiden Wesen hatte Angst vor dem anderen. Vielleicht traf das auch auf das andere zu. Folglich waren sie einander Feind. So jedenfalls die Theorie.

      Als Siralen die Augen aufschlug, lag sie in einem unbefriedigenden Schatten, der nur von einer Zeltplane herrühren konnte, niemals aber von einem Baum oder Felsen. Unter ihr eine unbequeme, sandige Unterlage, auf ihren Schultern ein widerlich glitschiges Objekt und um sie herum ein unangenehmer Geruch, der ihr in die Nase stieß wie faule Eier.

      Siralen rieb sich die Augen und schärfte ihren Blick. MacOsborn. Er lag unweit von ihr und hatte … nun, der Geruch sprach Bände. So sehr es sie auch grämte, diese Wahrheit zu akzeptieren, er hatte offenbar seinen Darm entleert. Akut, nicht etwa kontrolliert, wie man es von einem erwachsenen Mann hätte erwarten können. Siralen ahnte, wo sie sich befanden. Und das schickte auch durch ihren Bauch ein nervöses Beißen. Die Scorpios hatten sie verschleppt. Sie befanden sich in einem riesigen Zelt mitten in der Wüste in einem feindlichen Lager. Das Zelt war gewiss an die sechs Schritt hoch, sodass selbst ein Skorpionmensch der ihnen bekannten Größe genug Platz hatte, sich darin frei zu bewegen.

      Siralen setzte sich auf, schob den Slarpon zur Seite und blickte sich um … Chara. Offensichtlich hatten sich die Scorpios jene Leute herausgepickt, die mit ihnen vor der Schlacht zu verhandeln versucht hatten. Abgesehen von Irwin, der nur zufällig bei ihnen gelegen hatte. Zum ersten Mal seit Siralen Chara kannte, war die Assassinin ohne ihre Leibwachen vom Stamm der Goygoa. Wie ihr das wohl bekam?

      Wieso sind wir hier?

      Chara hatte Schangra erwähnt. Damit wusste sie, aus Perspektive der Scorpios, möglicherweise etwas, das einer weiteren Nachforschung bedurfte. Jetzt saß die Assassinin mit dem Gesicht zum Zelteingang im Sand, die Arme auf die angezogenen Knie gestützt und schwer in Gedanken versunken.

      „Nachdem wir nicht gefesselt sind, nehme ich an, wir werden bewacht“, bemerkte Siralen. MacOsborn stieß ein leises Wimmern aus.

      „Da hast du recht“, erwiderte Chara, ohne sich umzudrehen. „Von einem großen Schwarzen. Er steht vor unserem Zelt.“

      Siralen nickte und erhob sich. Ihre Beine fühlten sich wie Stelzen an. Sie hatte sich zu lange nicht bewegt. Vorsichtig testete sie die Geschmeidigkeit ihrer Fußgelenke, indem sie auf- und abwippte. Sie meinte, ein leises Knirschen zu hören.

      „Was, denkst du, haben sie mit uns vor?“

      „Zuerst herausfinden, was es mit uns auf sich hat. Dann beseitigen.“ Chara drehte sich um und lächelte schief. „Ich schätze, sie werden nichts erfahren, was sie dazu veranlassen wird, Gnade walten zu lassen. Es sei denn wir finden heraus, was ein Volk wie ihres wirklich interessiert.“

      „Dann lass uns gemeinsam darüber nachdenken.“

      „Ich fürchte, wir müssen sie erst beobachten und studieren.“

      „Das hieße dann ja, erst handeln, wenn wir uns bereits in tödlicher Gefahr befinden.“