Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende. J. H. Praßl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J. H. Praßl
Издательство: Bookwire
Серия: Chroniken von Chaos und Ordnung
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948695712
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unterhalb der Plattform. Irwin sah die riesigen Gestalten vor der aufgehenden Sonne, sah, wie Chara sich kampfbereit machte und ihre Zweililie hob. Unmittelbar vor ihr tauchte eine der gewaltigen Kreaturen auf. Er war kein Alp aus einem Traum. Er war ein Gegner aus Fleisch und Blut – mit langen, dunklen Haaren, einem Gesicht, das sogar ziemlich gut aussah, muskelbewährten Schultern und Armen, schwarzer Haut und einem Schwert, das so groß war wie Chara.

      Sein schwarz-grauer Panzer sprang über die Kante der Plattform. Irwin hielt den Atem an. Dann schlug die Flok zu, und um sie herum kam Bewegung in die Truppen. Die Soldaten des zweiten Bataillons warfen sich in den Kampf. Genauso wie Siralen, Lindawen und Kerrim Ben Yussef. Und die Leibwachen, die an Charas Seite kämpften. Irwin sah, dass sie in den Kampf der Flok zwar nicht eingriffen, aber sie würden es ganz bestimmt tun, sobald ihren Schützling die Kraft verließ.

      Charas erster Schlag krachte auf die gewaltige Klinge des Gegners. Der Konter des Scorpios kam mit voller Wucht und unerwartet schnell. Es war die Wucht, die Chara den Atem aus den Lungen presste, als sein Schwert gegen den Schaft ihrer Zweililie krachte. Von Irwins Position aus wirkte es, als hätte ihr der Schlag die Schulter aus dem Gelenk springen lassen. Stöhnend taumelte sie zurück, hielt die Klinge des Skorpionkriegers aber eisern auf Abstand. Soweit Irwin es sagen konnte, war noch alles an ihr dran.

      Das nächste, was die Flok zu kontern bekam, war eine riesige Zange, die auf sie zuschoss. Für die Länge ihrer Stangenwaffe war die Distanz zu knapp. Chara ließ die Zweililie fallen und sprang. Die Zange zerschnitt knapp unter ihren Stiefelsohlen die Luft. Im selben Atemzug holte die Kreatur mit ihrer Rechten aus und ließ ihr Schwert auf sie niedergehen. Sie schaffte es gerade so, dem Schlag auszuweichen. Die schwere Klinge krachte in den Felsen und splitterte. Ein gewaltiger Stoß gegen ihre Brust ließ sie erneut zurücktaumeln. Der riesige Stachel des Skorpionkriegers donnerte wie eine Ramme gegen ihren Brustkorb. Chara keuchte, schnappte gierig nach Luft. Das Bild des mächtigen Schwarzen vor der zurückweichenden Flok schien einzufrieren. Einen Herzschlag war Irwin, als ob die Zeit stehenbliebe. Dann zuckte der Stachel zurück.

      Allmählich dämmerte es ihm, dass die Flok diesem Gegner hilflos ausgeliefert war. Doch sie hatte mehr Glück als Verstand. Ihre Rüstung, obgleich nur aus Leder, verhinderte, dass der giftige Stachel in ihr Fleisch drang. Jedenfalls sah es so aus, als hätte der Brustpanzer ganze Arbeit geleistet. Wahrscheinlich war die Rüstung magisch hergestellt. So etwas hatte er schon gesehen.

      Der mächtige Panzer der Kreatur sackte nach unten, als würde er zu einem Sprung ansetzen, und Chara schreckte hoch. Noch bevor der Scorpio den Sprung ausführen konnte, rammte sie seinem menschlichen Oberkörper ihren stahlkappenbewährten Stiefel in den Rippenbogen. Ein Knacken und ein wüstes Knurren bestätigten den Erfolg ihres Angriffs. Und das war’s dann auch schon mit den Erfolgen der sagenumwobenen Flok.

      Als Nächstes spürte sie sehr wahrscheinlich einen beißenden Schmerz in ihrem rechten Oberarm, denn die gewaltige Schwertklinge riss ihr eine saftige Wunde. Oh ja, das hatte gesessen. Charas Schwertarm baumelte kraftlos an den wenigen Sehnen, die nicht durchtrennt waren. Die Flok versuchte zwar, mit der Linken weiterzukämpfen, doch sie kam nicht an den verwundbaren, menschlichen Teil ihres Gegners heran. Ein Hieb seiner Zange gegen ihre linke Hüfte warf sie von den Beinen, ein weiterer Schwerthieb brach ihr das linke Schlüsselbein. Irwin biss sich auf die Lippe. Zu ihrem Glück hatte der Scorpio sie nicht richtig erwischt. Ansonsten hätte er ihr vermutlich den Torso gespalten – bis hinunter zwischen ihre Beine.

      Chara schaffte es, noch im Fallen ihre Zweililie vom Boden hochzureißen. Sie zog die Waffe durch und zerschnitt dem Feind die Nieren. Dunkeloranges Blut spritzte über sie hinweg, und wieder vernahm Irwin das Knurren, das von starken Schmerzen kündete.

      Als Chara auf ihren Knien landete, zerfetzte ihr die Zange des Schwarzen den Brustpanzer und schnitt sich durch ihren Oberkörper. Wieder spritzte Blut. Diesmal das der Flok. Chara sank in sich zusammen und fiel zur Seite. Benommen beobachtete Irwin, wie Siralen den Schwarzen angriff und mitsamt der Bestie zu Boden ging. Er verfolgte, wie die mächtigen Zangen des Scorpios nach der Elfe schnappten. Danach regte sich keiner der beiden mehr. Siralens Schwert lag reglos im Sand – die Klinge orange und glänzend wie die Morgensonne.

      Irwin schluckte und spürte, wie ihm kalter Schweiß auf die Oberlippe trat. Das konnte doch nicht Charas Ernst sein. War das etwa alles? War das der legendäre Einsatz des Sandkorns? Wie sollte er dazu eine Ode an die Helden der Allianz dichten? Da ging sich bestenfalls ein kleiner Lobgesang für die Tapferkeit aus. Den Göttern sei Dank konnte man immer auf den Mut ausweichen, wenn die Leistung nicht stimmte. Die Flok hatte kein zwanzigstel Glas durchgehalten. Ganz zu schweigen von den meisten Soldaten, die abnippelten wie die Kinder in den Armenvierteln von Anbar. Ein bisschen mehr hätte man sich schon erwarten können, wenigstens vom Kommando. Siralen, Versprechen des Blitzes? Gefallen. Darcean Zweiauge? Gefallen. Lindawen, wie auch immer? Gefallen. Kerrim, Meisterassassine … der kämpfte doch tatsächlich noch. Aber wie lange?

      Irwin ließ ab von den grausamen Bildern auf dem Felsplateau und verkroch sich in seinem Versteck. Wie sollte er sein Bardenleben retten, hier, an diesem schrecklichen Ort, wo die Kraftverhältnisse so dermaßen aus den Fugen geraten waren? Nervös kaute er an seinen Nägeln und betete um ein Wunder. Wenn das so weiterging, würde es bald niemanden mehr zwischen ihm und diesem abartigen Feind geben. Die Scorpios würden über ihn herfallen und ihm mit ihren Riesenzangen alle Glieder ausreißen.

      „Wieso?“, wimmerte er und rollte sich zusammen wie ein Embryo. Wieso hatte Chara versagt? Er hatte so sehr auf das Sandkorn gezählt.

      Ein Lärm brach los, der Charas sterbendem Körper ein letztes Zucken abrang. Zuerst wusste sie nicht, was sie da hörte. Dann drang immer deutlicher eine Melodie in ihren Geist. Es war ein raukehliger Gesang.

      Mühsam öffnete Chara ihre Augen. Kriegsbeile, schwere Kriegshämmer, Morgensterne, Leder, Ketten und blaue, rote, schwarze Haarkämme tauchten in ihr Blickfeld – wilde Kriegsbemalungen in derben Gesichtern. Hatten sie sich bisher auch im Hintergrund gehalten, jetzt zogen sie geschlossen in den Kampf. Die KEZS – Jagan Kermes verrückte Zwergentruppe.

      Die Krieger prallten wie Geröll auf die Formation der Scorpios und schlugen tatsächlich Löcher in ihre gepanzerte Mitte. Furchtlos stürzten sich Kermes Elite-Zwergensöldner in die Schlacht gegen die mehr als zehn Mal so großen Gegner. Chara hätte sie angefeuert, hätte sie noch einen Hauch von Kraft in ihrem sterbenden Leib gehabt. So dachte sie nur, dass jede Art ihren Reiz hatte und jeder Krieger seine Waffe.

      „Wir sind die, die durch’s Feuer gehen …“♫, sangen die KEZS. Und genau das taten sie. Einer nach dem anderen gab den Löffel ab, doch sie schienen daran eine fast schon ekstatische Freude zu haben, und jeder einzelne von ihnen riss eine schmerzende Wunde in den Leib der feindlichen Streitmacht. Kermes Elite-Zwergensöldner machten ihrem Namen alle Ehre. Und doch, auch sie würden am Ende fallen.

      Chara schloss die Augen. Erneut zog ein heftiger Schwindel auf und wirbelte sie in eine tiefe Dunkelheit.

      Als Chara erneut zu sich kam, hielt sie Lindawens Hand. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah, dass der Lichtjäger neben ihr lag. Er hatte die Augen geschlossen. Das Blut, das seine Kleidung nass an seiner Haut kleben ließ, konnte von ihm sein, von ihr, von denen, die, von seinem Schwert durchstoßen, an seinem Körper hinabgeglitten waren. Er atmete schwach. Vielleicht atmete er auch gar nicht mehr …

      Keiner von ihnen war den Scorpios gewachsen. Nicht die Soldaten, nicht die KEZS, nicht Lindawen oder Kerrim oder sie oder Siralen. Auch nicht die Dad Siki Na.

      Zwei der Dad Siki Na waren an ihrem eigenen Blut erstickt. Chara hatte gesehen, wie sie mit zerrissenen Körpern zu Boden gingen. Ein paar Schritte weiter erkannte sie die schwarzen Umrisse ihres Bruders. Kerrim stand noch immer und kämpfte. Doch auch er würde am Ende tot sein. Und auch ihm hätte sie noch das Eine oder Andere zu sagen gehabt.

      Die einzigen, die den Scorpios das Wasser reichen konnten, waren die Schwarzen Assassinen. Die beiden fremdartigen Wesen, schwarzhäutig und gelbäugig die einen, animalisch und gewaltig die anderen, bekämpften einander, als wären sie ebenbürtige Gegner, annähernd. Es war ein eindrucksvolles Schauspiel. Wären die Scorpios nicht dermaßen in der Überzahl, wäre der Kampf wahrscheinlich