„Wie?“, fragte er nur. Bagus hatte gelernt, mit wenigen Worten an viel Information zu kommen. Vielleicht war es gerade das, was die Eminenz an ihm schätzte, und warum er ihn zu seiner Rechten Hand erwählt hatte. Immerhin war ihr Anführer häufig in der Flotte unterwegs und brauchte jemanden, der hier für ihn sprach. Jemanden wie ihn, Bagus, der von den meisten respektiert wurde.
Jetzt schritt die Eminenz an das heckseitige Fenster der Messe und spähte auf das Meer hinaus. Von hinten wob das Licht der Öllampe einen glorienhaften Schimmer um seinen schlanken, aufrechten Körper. „Die Dragatisten haben sich an das Sandkorn gewandt. Jemand nutzt ihre Sympathie für das Chaos und ihren Stellenwert, um für die Anhänger des Dragati einen Fuß in die Reihen der Allianz zu bekommen.“
„Wer ist es?“
„Wissen wir nicht.“ Die Eminenz drückte den Rücken durch, und seine Gestalt wirkte plötzlich größer.
Bagus kannte ihn erst, seitdem er vom Innersten Kreis zu dieser Mission abkommandiert worden war. Vorher war Bagus mal hier, mal dort als Spion in den Reihen der Allianz eingesetzt worden. Aber hier im klar definierten Rahmen dieser Flotte gefiel es ihm am besten. Hier konnte man den Feind studieren, seine Bewegungen und Regungen beobachten, um Gelegenheiten zu nutzen und zuzuschlagen. Es war wie ein Spiel. Es war ein Spiel. Im letzten Jahr hatte sich sogar herausgestellt, dass es ein paar Kollegen gab, die immer mal wieder gerne ein paar ihrer Schiffchen versenkten. Besagte Kollegen verfolgten die tausend Schiff große Armada mit ihren Seglern in sicherer Distanz. Innerhalb der Flotte spielten die Eminenz und seine Anhänger ein anderes Spiel. Es hatte keinen Namen. Es zielte darauf ab, Verwirrung und Angst zu schüren, einen Keil in die Allianz zu treiben, Freunde zu Feinden zu machen, Anführer zu Ausgestoßenen und Verbrechern … Das Spiel blieb vom ersten bis zum letzten Zug spannend. Bagus liebte dieses Spiel.
„Aber wenn sie mit den Dragatisten paktiert, brauchen wir sie nur auffliegen zu lassen“, schlug er vor. „Sie säße schneller in der Brig, als ein Schattenbote verschwinden könnte. Und das wäre noch ein Gnadenakt, wenn man bedenkt, dass sie nicht nur Verrat begeht, sondern auch mit allen Richtlinien der Allianz bricht.“
Fast sah es aus, als würde die Eminenz lachen, zumindest angesichts des kleinen Bebens in ihren Schultern. Aber es blieb still in der Messe, und die Eminenz wandte Bagus nach wie vor den Rücken zu.
„Es gibt keine Beweise. Das heißt, es gibt sie sehr wohl. Leider habe nicht ich sie, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach der Lichtjäger.“
„Ein Lichtjäger?“ Bagus verzog das Gesicht. Man hatte ihn nicht davon unterrichtet, dass ein Lichtjäger mit dem Kommando der Allianzflotte verkehrte. „Wieso lässt er sie nicht auffliegen? Genau das wäre doch seine Pflicht.“
„Wir wissen kaum etwas über ihn. Vielleicht will er sie schützen. Vielleicht will er sie am Ende ausliefern und arbeitet im Augenblick daran, ihr Vertrauen zu gewinnen, um ihr nahe sein zu können und sie schlussendlich mit einem Schlag zu vernichten. Vielleicht ist sein Lichtjägertum nur eine Tarnung und er ist jemand, der inkognito für unsere Seite arbeitet, von wem auch immer beauftragt. Wie dem auch sei, die Akademiemagierin haben wir aufgebaut und verloren. Aber ihre Informationen sind uns geblieben. Jetzt werden wir damit arbeiten. Zeigt mir die Liste.“
Die Eminenz wandte sich zu ihm um, und ein schmallippiges Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Wie meistens war sie zufrieden mit sich und ihren Errungenschaften. Und das wiederum machte Bagus zufrieden.
Kerzenlicht … kaltes Bett … ein maliziöses Lächeln … ein Kuss … Blut unter den Nägeln, Schweiß auf der Haut, lodernde Flammen darunter …
Ein Blitzen wie von Stahl … silberne Rüstung … geschlossenes Visier … eine Hand, die sich auf ihre Brust legte.
Zerberstender Stahl … Angst … beißendes Verlangen … geflüsterte Worte in der Nacht: „Nimm dir mein warmes Blut!“
Chara zuckte so heftig zusammen, dass sie befürchtete, die Wunden an ihrem Körper würden erneut aufbrechen.
Lomond.
Als hätte sie der Name aus einem Traum gerissen, verschwand der Krieger in silberner Rüstung wie ein Windhauch. Chara blinzelte ins Sonnenlicht. War sie etwa schon im Delirium, kurz vor dem letzten Gang?
Chara suchte mit den Augen den Wüstenkessel ab. Es war ruhiger geworden dort unten, unterhalb des Plateaus. Siki war tot. Sein regloser Leib wölbte sich wie eine unförmige Düne über die Ebene im Kessel. Die wüsten Laute der sterbenden Scorpios waren verhallt. Und die meisten von ihnen lebten noch.
Da erspähte Chara die zwanzig Gestalten in silbern glänzenden Ritterrüstungen. Sie tauchten am Rand des Wüstenkessels auf. Einer nach dem anderen betraten sie das Schlachtfeld, auf dem die Scorpios gerade einen klaren Sieg errungen hatten. Sie zückten ihre Schwerter und schritten in tödlicher Anmut den Wüstenkriegern entgegen. Es war eine unheimliche Ruhe, in welche die zwanzig albischen Krieger eindrangen. Chara holte tief Luft und ignorierte den Schmerz, der ihr dabei durch den Brustkorb zuckte.
Wie war es möglich, dass die MacDragul hier waren?
Jetzt verfielen die Krieger in den Rüstungen in einen Laufschritt und wurden immer schneller. Ohne jegliche Ordnung fegten sie über das Schlachtfeld, als wären sie nicht aus Fleisch und Blut. So sehr die Natur ihre Schöpfung auch perfektioniert hatte, im Vergleich zu den MacDragul waren die Wüstenkrieger langsam. Nur ein solides, gleichsam primitives, ja fast schon schwerfälliges Kriegsgerät. Als sie auf die Scorpios trafen, herrschte pure Gewalt. Wie blitzende Lichter tanzten die albischen Krieger zwischen den dunklen Panzern ihrer Gegner. Die mächtigen Scheren der Wüstenkrieger schnappten schwerfällig nach den Männern und Frauen in Platte. Sie sprangen darüber hinweg, wichen mit einem knappen Seitwärtsschritt aus und brachten gezielt ihre Klingen zum Einsatz. Der Schwung, mit dem die Scorpios ihre giftigen Stachelschwänze schleuderten, war zu behäbig. Allein ihre acht Beine konnten ihr Nachsehen einigermaßen wettmachen. Es reichte, um einige der Vampire schwer zu verletzen. Die MacDragul waren nicht unbesiegbar. Doch jetzt, hier, waren es zu wenige der Scorpios, selbst wenn diese weit in der Überzahl waren. Ein Scorpio nach dem anderen fiel unter den Waffen der MacDragul. Sie erkannten ihre Unterlegenheit rasch. Die, die nicht unter dem Ansturm der Vampire fielen, zogen sich kontrolliert zurück.
Fünf zu eins! Etwa hundert ihrer schwarzen, sandfarbenen und braunen Krieger fielen unter dem Ansturm der zwanzig MacDragul. Was für eine Waffe. Was für ein Gewinn für die Allianz.
Mit klopfendem Herzen starrte Chara auf ihre Verstärkung. Weder tot noch lebendig … aber nahezu unbesiegbar. Krieger wie aus Träumen gemacht. Krieger, von denen sie geglaubt hatte, sie nie wieder zu sehen.
Und da war er. In diesem Augenblick schälte er sich aus den Reihen der anderen. Marduk Lomond MacDragul. In aller Ruhe reinigte er seine Schwertklinge. Dann steckte er die Waffe weg und schritt über das Schlachtfeld auf sie zu.
Fünf Mal donnerte Charas Herzschlag gegen ihre Brust. Dann war der Vampir neben ihr. Ein leises Knirschen, als er in die Hocke ging. Das Visier seines Helms schob sich so nah an ihr Gesicht, dass das kalte Metall ihre Haut berührte. Chara blickte direkt in den Schlitz seines Helms. Tiefschwarze Augen blickten zurück.
„Lomond.“
Sein Helm drehte sich zur Seite. Es war offensichtlich, dass er Lindawen musterte.
„Ein neues Spielzeug?“
Sie wusste nicht weshalb, aber seine Frage machte sie wütend. „Was, zur Hölle, machst du hier? Wie bist du hierhergekommen?“
„Zu Fuß. Durch die Wüste.“
Der