Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende. J. H. Praßl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J. H. Praßl
Издательство: Bookwire
Серия: Chroniken von Chaos und Ordnung
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948695712
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Kämpfern … Chara kniff die Augen zusammen. Mit einem schmerzvollen Stöhnen richtete sie sich auf. Da war etwas Seltsames, in den Reaktionen der Schwarzen Assassinen. Jedes Mal, wenn sich einer der Scorpios auf sie zubewegte, zuckten sie zusammen. Befremdlich irgendwie, als wären diese Wesen ihnen bekannt. Außerdem hatte sie noch nie gesehen, dass ein Schwarzer Hatschmaschin Angst vor irgendetwas hätte. Es musste sich um eine Art Reflex handeln, eine instinktive Witterung von Gefahr. Dann war nichts mehr von dieser Urangst zu sehen gewesen. Danach hatten sich die beiden außergewöhnlichen Kämpfer ineinander verbissen, als wären sie einander vertraute Feinde.

      Chara ließ sich zurück auf den harten Boden sinken. Sie war ausgeblutet. Wie ein lebloses Stück Fleisch lag sie an Lindawens Seite und hielt seine blutverkrustete Hand. Der Morgen ging in den Vormittag über. Das Sonnenlicht wurde allmählich gleißend hell und knallte heiß auf ihren zerschundenen Körper hinab. Chara hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verfaulen.

      Vor ihren Augen überrannten die Scorpios Stück für Stück das etwa siebenhundert Mann starke zweite Bataillon. Ihre Zahl war schier endlos. Als Chara ihren Blick über das Felsplateau und den Wüstenkessel wandern ließ, hatte sie das Gefühl, kein Krieger des Wüstenvolks war gefallen. Doch da waren ihre Kadaver, nur eben bei weitem nicht so viele wie die der Allianzkrieger.

      Das Klirren der Waffen wurde seltener. Das zweite Bataillon war geschlagen.

      Charas Kopf rollte zur Seite. Ihr Blick blieb an Lindawens geschlossenen Augen haften. Es war ihre letzte Gelegenheit, dem Lichtjäger zu sagen, was sie für ihn fühlte. Wenn er sie denn überhaupt noch hören konnte. Andererseits, einem Toten öffnete man sein Herz leichter.

      Sie machte den Mund auf. Doch der langgezogene Klang eines Horns veranlasste sie dazu, ihn wieder zu schließen … Das Signal war ihr bekannt.

      Irgendetwas in Charas Kopf legte sich um. Irgendetwas warnte sie, wie zuvor die Schwarzen Assassinen vor den Scorpios. Nur war es keine Warnung vor dem Gegner. Es war eine Warnung vor denen, die mit ihr kämpften.

      Es war kein Horn, es war eine Muschel. Der weiche Klang, der wie ein melodisches Schlachthorn von den Felswänden zurückgeworfen wurde, war von den Dad Siki Na. Chara hatte ihn in Cunair Tarr gehört. Dreimal kurz, einmal lang …

      Tis la Siki …

      Ein weiteres Mal schaffte sie es, sich hochzustemmen. Sie suchte und fand den Dad Siki Na, der die Muschel in der Hand hielt, und der sie nun fallen ließ. Wenn sie sich nicht täuschte, war es Og. Und er hatte sich selbst gerade den Todesstoß versetzt.

      Die Hand, die gerade noch die Muschel gehalten hatte, verkrampfte sich, fing haltlos zu zittern an. Ogs ganzer Körper wand sich mit einem Mal unter heftigen Krämpfen. Es war ein kurzer, offensichtlich qualvoller Schmerz, und er zwang den Dad Siki Na auf die Knie. Seine sonnengebräunte Haut splitterte wie Glas, platzte auf wie die Haut eines Reptils. Der Körper des Goygoa wuchs. Hände wurden zu Pranken, Menschenhaut zu Schuppen unter schütterem Haar; ein Schwanz, der in einen dornenbewährten Knoten überging, ein Maul ähnlich dem einer Echse, rasiermesserscharfe Zähne, raubkatzenhafter Leib …

      Die Verwandlung ging so schnell, dass man sie kaum nachvollziehen konnte. Einmal geblinzelt, und Og hatte sich in eine der tödlichsten Kreaturen Amaleas verwandelt – den schier unbezwingbaren Dämon der Kabugna-Inseln. Siki Ka Tri Ida Di.

      Kaum, dass er sich wie ein Wolf unter Lämmern inmitten der Scorpios materialisiert hatte, fing er auch schon an zu töten. Und dabei machte er keinen Unterschied zwischen Freund und Feind. Den Mächten sei Dank gab es keine Verbündeten in seiner näheren Umgebung. Dafür hatte Og gesorgt, als er noch bei Verstand gewesen war. Wie schon im Pass von Cunair Tarr brach Siki in die Front der Feinde wie ein Rammbock durch morsches Holz. Seine Zunge zuckte durch Schädelplatten und schlürfte Gehirne aus Köpfen. Endlich fielen die Krieger der Wüste in ermutigender Zahl. Und doch, würde es reichen? Selbst Siki konnte diesen endlosen Ansturm nicht aufhalten. Wann, wo sollte er sich regenerieren?

      Chara spürte einen Stich im Herzen. Dort wütete die furchtbarste Bestie, die ihr je untergekommen war, und doch fühlte sie einen seltsamen Schmerz angesichts der Tatsache, dass sie heute und hier sterben würde. Og hatte sein Leben für ihres geopfert. Er ging an seinem Schicksal zugrunde. Die Dad Siki Na starben für das Sandkorn. Siki war ihre Bestimmung. Und er war Charas Begleiter, vielleicht sogar der treueste, den sie je haben würde. Immer mehr begriff sie die Tragweite der Opferbereitschaft ihrer Leibwachen. Sie war etwas Ähnliches für die Dad Siki Na, wie Al’Jebal für sie.

      Von dem Morden ihres Dämons seltsam in den Bann gezogen, beobachtete Chara, wie sein breiter Schädel in alle Richtungen schnellte und Scorpio-Köpfe knackte, wie sein Schwanz ganze Skorpionkrieger von ihren acht Beinen warf und sie mit seinem gewaltigen Knoten einfach zerschmetterte. Als hätte jemand das Tor in die Unterwelt geöffnet und seinen Wachhund ins Diesseits gejagt – auf alles, was sich hier bewegte …

      Sollte jemand wider Erwarten diese Schlacht überleben, würde diese garantiert in die Geschichte eingehen. Chara blinzelte und spähte zu dem Felsen, von dem sie wusste, dass Irwin MacOsborn dahinter kauerte. Wenn sich der Barde schon derart ins Beinkleid machte, dass er sich verstecken musste, konnte er wenigstens irgendwann noch mal einen sinnvollen Beitrag leisten.

      Träge wälzte sie den Kopf auf die andere Seite. Kaum noch dazu in der Lage, die Augen offen zu halten, sah sie wieder Lindawen an. Doch als sie endlich den Mund aufmachen wollte, lenkte erneut etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich.

      Chara horchte in den Schlachtlärm hinein …

      … und versteifte sich.

      Ich bin ein Krieger der Nacht, bin ohne Tagtraum geboren.

      Ich geh dem Licht aus dem Weg, in dunklem Schatten verloren,

      meine Seele ist zerrissen, und mein Geist, der ist verdammt,

      und so zähle ich die Leben, bis das Ende endlich kommt.

      Näher und näher und näher.

      Komm, süßer Tod …♫

      Es war das Lied vom Tod. Es sang vom Schlaf, vom Vergessen und dem Ende aller Qual. Es erzählte von Charas Sehnsucht, von ihrer Liebe zum Niedergang. Die Stimme sang ihr aus dem Herzen. Und sie wurde lauter. Doch das war es nicht, weshalb sich ihr Körper versteift hatte.

      Chara holte zitternd Luft. Ihre Lider schlossen sich. Irgendetwas sagte ihr, dass es nicht ihre eigene, innere Stimme war, dass es diesmal nicht ihr vorlautes, zweites Ich war, das sich Gehör verschaffte. Wenn sie genau hinhörte … sicher, es war nicht eine, es waren viele Stimmen.

      Ich hab aus Sehnsucht getötet, den Zorn der Götter erregt,

      hab mich mit ihnen, den Engeln und mit mir selbst angelegt,

      meine Seele ist zerrissen, und mein Geist ist verdammt,

      und so zähle ich die Leben,

      bis das Ende endlich kommt,

      näher und näher und näher …

      Charas Pulsschlag beschleunigte sich.

      Komm, süßer Tod. Komm, süßer Tod.

      Wo kamen diese Stimmen her?

      Nimm mich zu dir, ich bin nicht im Hier.

      „Erlöse mich.“

      Es ist an der Zeit, keine Liebe, kein Leid.

      „Hol mich zu dir.“

      Erschöpft öffnete Chara ihre Finger, und Lindawens Hand fiel auf den Boden. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung an ihrer Seite, ein Lufthauch an ihrer Wange, und Chara atmete zitternd ein.

      „Muss ich wieder dein Blut retten?“

      „Sie paktiert mit den Dragatisten.“

      Seine Art zu reden war wie immer. Als gäbe es auf der Welt nur ihn, ihn, sein Wissen, seine Pläne. Und im Grunde gab es ja auch nur ihn. Jedenfalls hier innerhalb der Flotte des Feindes, wo sie seit