Ein behandschuhter Finger glitt über ihre Wange. „Ich war hier, bei dir … ganz nah!“
Chara schob seine Hand weg. „Welches Schiff?“
„Unwichtig.“
„Hat Al’Jebal dich geschickt?“
„Nein.“ Er klang ernüchtert, und Chara stellte fest, dass sie der plötzliche Verlust seiner Leidenschaft irritierte.
„Kerrim hat mich gerufen.“
Na sicher.
Es war zum Haare raufen. Lomond hier, Lindawen hier. Wer noch, der sie von ihren Pflichten ablenkte?
„Wieso hast du dich entschieden, an der Expedition teilzunehmen?“
„Hast du meine Botschaft nicht erhalten?“
Er war ihr wie immer zu nahe.
„Das Ding, das durch den Wind geht …“
Allmählich wurde ihr klar, warum die MacDragul während der Überfahrt keine Versorgung nötig gehabt hatten. „Während ich schlafe …“, rezitierte sie aus dem Traum.
Sie sah es nicht, aber sie wusste, dass Lomond unter seinem Helm lächelte.
„Richtig. Ich und meine Brüder und Schwestern haben geschlafen. Und geträumt …“
Er sah sich nach seinen Leuten um. Dann beugte er sich erneut zu ihr, und Chara konnte durch seinen Visierschlitz den animalischen Glanz in seinen Augen sehen.
„Wir haben lange nicht gegessen. Wäre es … unangebracht, wenn wir uns der Todgeweihten annehmen?“ Er deutete auf die gefallenen Soldaten des Bataillons.
„Es wäre mir lieber, ihr würdet euch an den Scorpios vergreifen.“
Er wich zurück, als hätte sie ihm lasches Gemüse angeboten. Chara wusste nicht, was sie ihm und seinen Gefährten sonst anbieten sollte. Außerdem war die Situation zu abstrus, um vernünftige Entscheidungen zu treffen.
„Tut euch keinen Zwang an.“
Er strich ihr mit seiner behandschuhten Rechten über die Wange. Chara spürte ihr Herz gegen ihre Rippen donnern. Einen Lidschlag später war sie wieder allein. Und kurz darauf hingen zwanzig Vampire an den Hälsen und Handgelenken der sterbenden Soldaten. Vielleicht war es ja ein Genuss, auf diese Weise den Tod zu finden. Besser, als einsam zu verbluten.
„Du kannst jetzt loslassen“, vernahm sie eine gefasste Stimme an ihrer Seite. Erst jetzt registrierte sie, dass Lindawen wach war und sie erneut seine Hand hielt. Seine Fingerkuppen waren weiß angelaufen, so fest umklammerte sie ihn. Reflexartig ließ sie los.
„Ist er das?“
„Wer?“, fragte sie unschuldig. Dachte sie wirklich, sie könnte den Lichtjäger zum Narren halten?
„Marduk Lomond MacDragul.“
Lindawen wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Dann wandte er sich ab. Und plötzlich wurde Chara klar, dass sie in der Falle saß. Der Jäger des Lichts und der Sklave der Nacht … Beide waren hier, beide waren wie Krücken für ihre verkorkste Seele. Beide waren das Extrem, von dem aus sie aufbrechen konnte – von der Nacht in den Morgen und vom Abend in die Nacht. Beide waren unwiderstehlich für jemanden wie sie.
In acht Glas würde die Dämmerung über die Wüste kriechen, und der Schatten der Felsen im Westen über den Talkessel wandern. Chara spähte in den Himmel und wusste, dass ein einziger Stern aufblitzen würde, wenn sich die Nacht über das Tal senkte. So wie gestern …
Der Morgen- und der Abendstern.
Sie dachte an ihren Traum. Sie dachte an ihre drei Begleiter. Kerrim, Lindawen, Lomond. Der erste der drei versprach Sicherheit. Die anderen beiden waren brandgefährlich.
Irwin MacOsborn hatte die Beine ganz nah an seinen Körper gezogen. Er lag in Embryonalstellung hinter seinem Felsbrocken und spürte das feine Beben, das in Wellen durch seinen Körper ging. Noch immer … Acht Glas, nachdem die MacDragul aufgetaucht waren und die Schlacht gegen diese … Monster ein Ende gefunden hatte, zitterte er noch immer. Ja, er hatte an dieser Schlacht nicht aktiv teilgenommen. Immerhin war er ein Barde und keiner der Helden, die er besang. Andererseits war er schon fähig, ein Schwert zu führen. Er hatte es nur wohlweislich niemandem auf die Nase gebunden. Besser, die anderen wussten es nicht. Wussten nicht, dass sein Vater darauf bestanden hatte, ihn zum Krieger auszubilden, obwohl er immer nur die Welt mit Musik bereichern wollte. Jeder wusste, dass Musik die stärkste aller Waffen war, wenn man etwas bewegen wollte. Dass sie magisch war, die effizienteste aller Zauberformeln, um die Welt zu verändern, sie zu verbessern. Jeder liebte die Musik, jeder tanzte mit Freuden nach ihrer Pfeife. Deshalb waren die Bardenzauber ja auch so mächtig. Sie nutzten den magischen Moment, der jedem wohlgestimmten Klang innewohnte. Und bei allem Hehl, den die Leute um die Magie sonst so machten, die Bardenlieder waren effizienter als die üblichen Sprüche der Akademiemagier, Druiden, Hexer oder was es in Amalea sonst noch so gab, oder auch jenseits des Großen Abgrunds …
Leider hatte er angesichts der über alle Maßen bedrohlichen Bedrohung ganz vergessen, einen seiner wunderbaren Gesänge anzustimmen. Es hätte vielleicht geholfen.
Irwin verzog bibbernd das Gesicht. Die Nacht brach über das Wüstental herein, und es wurde deutlich kühler. Schmerzensschreie, Stöhnen und Gemurmel hingen wie eine Dunstglocke über dem Plateau. Die Soldaten hatten ein notdürftiges Lazarett aus Decken und ein paar vallandischen Zelten für die Erstversorgung aufgebaut. Die hatten aufgehört, sich Sorgen darum zu machen, entdeckt zu werden. Die Scorpios wussten jetzt ja, wo sie waren. Xan würde sie hoffentlich davor bewahren, dass die albischen „Sklaven der Nacht“ gleich wieder abzogen. Dann wären sie nämlich endgültig verloren.
Es war so furchtbar gewesen! Als die Armee der Scorpios auf den Dünen aufgetaucht war, hätte er sich fast angepinkelt. Er hatte fest damit gerechnet, dass das darauffolgende Glas sein letztes sein würde, so sicher, dass er hier mitten in der Wüste sterben würde. Der größte Barde der Welt – einfach irgendwo im Nirgendwo hingeschieden, ohne dass jemand hätte davon berichten können. Auf der anderen Seite hätte es ihm auch um ein paar andere Leute leidgetan. Mittlerweile fand er einige von ihnen ganz gut. Er würde Charas Verlust bedauern. Sie war so stark. Sie hatte etwas von dem, was sein Vater nie hatte. Sie war wie ein Haus, in das man sich verkriechen konnte, wenn die Welt da draußen zu grausam wurde. Freilich im übertragenen Sinn. Chara mochte keinen Körperkontakt, soweit er das beurteilen konnte. Nicht so wie andere Frauen, die sich danach verzehrten, mit ihm auf Tuchfühlung zu gehen. Aber jetzt, hier … Als die Scorpios aufgetaucht waren, hatte sich Chara ganz vorne hingestellt. Es half zwar wenig, aber es fühlte sich gut an. Siralen hatte sich auch vorne hingestellt, ja. Aber Siralen behandelte ihn manchmal wie ein Kind. Das tat Chara nicht, jedenfalls nicht auf dieselbe herablassende Art. Deshalb mochte er Chara mehr als Siralen.
Dass er sich während der Schlacht hier verkrochen hatte, war freilich nicht die feine albische Art, aber er war eben auch kein albischer Ritter. Und jetzt? Jetzt war er kurz davor, kopfüber ins Verderben zu stürzen. Rings um ihn herrschte das blanke Entsetzen. Alles war am Sterben. All die Verletzten, die sich stöhnend auf dem Boden wanden, das viele Blut überall. Ja, selbst die Flok wäre fast draufgegangen. Wären die MacDragul nicht gewesen und hätten alles beendet, wären die Heiler ganz bestimmt zu spät gekommen. Wie sollte das alles jetzt weitergehen? Sie waren noch immer mitten in dieser götterverfluchten Wüste, umgeben von diesen riesenhaften Insektenwesen. Keinen Hunderten, keinen Tausenden, sondern, nach allem, was er mitgehört hatte, Zigtausenden. Lindawen und Kerrim hatten Chara und Siralen von ihnen erzählt. Gegen die kamen selbst die MacDragul nicht an. Und ja, es gab sie tatsächlich – Vampire. Nachdem ihre Retter sich am Blut der Halbtoten sattgetrunken hatten, bestand auch für ihn kein Zweifel mehr. Die MacDragul hatten sich nicht umsonst „Sklaven der Nacht“ genannt. Und sie waren auch nicht umsonst unbesiegbar, wie in ganz Alba gemunkelt wurde. Sie waren ja sozusagen schon tot …
„MacOsborn!“
Irwin schreckte zusammen. „Hm?“