Chara lächelte, obgleich ihr zum Schreien zumute hätte sein sollen.
„Wir könnten sterben.“
„Wir werden.“ Seltsam, aber auf einmal war auch Siralen zum Lächeln zumute.
Chara sah sie an. „Befreiend, nicht wahr?“
„Auf eine exzentrische Art, ja.“ Unfassbar! Ein unsterbliches Wesen wie sie … Die Gewissheit, dass sie sterben würde, hinterließ doch tatsächlich eine Art heilsame Belustigung. Da standen sie nun, die Assassinin und die Elfenkriegerin, und lächelten sich im Angesicht des Todes zu. Zum ersten und vielleicht letzten Mal.
Werde ich vor meinem Tod noch die Gelegenheit haben, Lindawen zu sagen, was er mir bedeutet?
Die Trommeln wurden lauter. Hinter den Dünen tat sich etwas. Alle vier Scorpios hatten sich Richtung Osten gewandt. Waren es Späher? Kommandanten? Wartete ihre Streitmacht hinter den Dünen auf weitere Befehle?
Jetzt geriet der Dünenkamm sichtbar in Bewegung. Chara fühlte die Nervosität wie kleine, feine Stiche unter ihrer Haut. Sie stieg mit jedem Atemzug. Ein gutes Gefühl.
Ja, die Scorpios hatten gewartet. Oder besser, sie hatten sie erwartet. Und nun rollte die Armee des Gegners wie schweres Gerät über den Grat der Sanddünen und offenbarte ihre Monstrosität in den vier Farben ihrer Anführer.
Die Trommeln verstummten, und ein messerscharfes Rasseln erklang. Dann hoben auch die Trommeln wieder an und verfielen nun in einen scharfen, harten Rhythmus.♫ Die vier Scorpios auf den Dünen gaben etwas an ihre Truppen weiter: Kommandos. Schwarze, braune und sandfarbene Skorpionkrieger bezogen in drei Blöcken Position. Es waren Hunderte der fremdartigen Wesen, die kleinsten davon – es waren die sandfarbenen – etwa dreimal so groß wie ein Mensch und mit ihren Chitinpanzern ungleich robuster.
Beim Anblick der gegnerischen Streitmacht ging ein aufgebrachtes Murmeln durch die Menge der Soldaten. Dann erscholl der Befehl O’Haras. Das zweite Bataillon marschierte in vier Blöcken zu je hundertsiebzig Mann Infanterie einschließlich Bogenschützen und Späher bis an den Rand der Felsplattform. Die Zauberkundigen und KEZS hielten sich abseits der hinteren Reihen. Das Allianz-Heer bezog Stellung.
Chara ließ ihre Fingerknöchel knacken. Die Soldaten des zweiten Bataillons wandten sich nun wie ein Mann der feindlichen Streitmacht zu. Zum ersten Mal begriff Chara, dass die Motivationsreden vor einer Schlacht ihren Sinn hatten. Es bedurfte einer wohlgestalteten Illusion, um selbst die hartgesottensten Männer bei einem solchen Gegner aktiv werden zu lassen. Und plötzlich hätte sie gerne geredet. Sie wollte, dass die Männer und Frauen des zweiten Bataillons den Augenblick als das begriffen und erlebten, was er tatsächlich war: Der Moment vor einer großen Schlacht. Möglicherweise vor einer großen Niederlage. Aber in jedem Fall ein denkwürdiger. Einer, den sie mit Leib und Seele spüren sollten. Sie sollten erkennen, dass sie im Augenblick noch lebten und dass der Tod nur ein weiterer Gegner war, den es zu bezwingen galt. Sie wollte, dass sie diese Erregung fühlten, die der Ausblick auf einen Kampf in ihren eigenen Körper pflanzte. Sie wollte, dass sie begriffen, dass das Chaos einen entscheidenden Teil eines Kriegers ausmachte, der erst im Angesicht des Todes wirklich zu sich selbst fand. Sie wollte, dass sie den furchtlosen Krieger als eine Schöpfung des Chaos begriffen und verstanden, dass es das Chaos war, das sie in Situationen wie diesen mit dem Gesang des Todes auf den Lippen auf das Schlachtfeld stürmen ließ. Aber es waren nicht ihre Männer. Es war nicht ihre Schlacht. Denn sie alle standen, kämpften und fielen für die Ordnung.
Und wofür kämpfte sie?
Lindawen und Kerrim tauchten neben ihr auf.
„Wie viele?“, fragte Chara.
„Eh … Ich glaube, dich nicht wirkelich interessiert die genaue Żahl, Schwesterchen.“
Kerrim hatte recht. Wen interessierten schon Zahlen. Die Prognose für Morgen stand sowieso fest.
Nachdem die beiden auch Siralen keinerlei Bericht gaben, machte sich die Elfenkriegerin auf zum Brigadier. Es war klar, was jetzt kam. Sie würden verhandeln. Und so sehr es Chara auch reizte, einfach zu kämpfen, Siralen traf die richtige Entscheidung. Es würde nur sehr wahrscheinlich nichts bringen.
Nach einer Weile kehrte Siralen zurück. Sie hatte sich von dem Gelehrten Garan Lefnui einen Slarpon anlegen und sich vom Brigadier eine Eskorte aus zehn Soldaten aufschwatzen lassen. Das ganze Prozedere dauerte fast ein halbes Glas lang – Zeit, die benötigt wurde, um den Slarpon behutsam an die Veränderung seiner neuen, organischen Umgebung heranzuführen und damit der Gefahr vorzubeugen, dass er sich dauerhaft und gewaltsam mit seinem Wirt verband. Viel Zeit für Chara, wenig für alle, die eine Konfrontation mit dem befremdlichen Gegner verhindern, oder doch zumindest hinauszögern wollten. Und der Gegner wartete. Er griff nicht an. Er gab ihnen Zeit zu kapitulieren, oder anders, das Weite zu suchen.
„Gehen wir?“, fragte Siralen endlich.
„Gehen wir.“
Siralen ließ das Bild der Soldaten aus ihrem Blick gleiten – alles entschlossene Gesichter, eiserne Selbstdisziplin in ihren Blicken, die Hände an den Waffen. Dann sprang sie, begleitet von ihrer Zehn-Mann-Eskorte, vom Felsplateau. Angewidert rückte sie den schleimigen Kopfkörper des Slarpons auf ihrer Schulter zurecht und ignorierte das unangenehme Ziehen der feinen Stacheln unter ihrer Haut, mit Hilfe derer der Schwanz des Slarpon an ihre Wirbelsäule angedockt hatte. Möge mir der Weltgeist die rechten Worte in den Mund legen. Die Augen auf die unheimliche Streitmacht geheftet, die jenseits des Tals gigantische, schwarze Flecken in den Sand malte, bewegten sie sich unaufhaltsam auf den Feind zu. Die Infanterie der Scorpios – oder sollte sie sagen, Kavallerie? – hielt Position und bewegte sich keinen Schritt weit, was fast noch unheimlicher war als ein Vormarsch. Ihre Kämpfer waren allesamt bewaffnet. Als hätten sie Schwerter, Beile und Kriegsflegel nötig. Sie waren doch von der Natur bestens ausgestattet, mit ihren Panzern, Zangen und Stacheln. Die Wüste schickte ihnen ihre stärksten Krieger.
Aus dem Augenwinkel sah Siralen, dass Chara, ihre zehn Leibwachen, Lindawen und Kerrim aufgeschlossen hatten. Niemand sagte ein Wort. Niemand hielt einen guten Rat bereit. Hinter sich spürte sie die Anwesenheit ihrer bewaffneten Soldateneskorte. Sie war nicht allein und war es doch.
Der herausfordernde Klang der Trommeln war längst verstummt, nicht aber das nervenzerfetzende Rasseln und Zischen, mit dem die Kreaturen ihre Befehle weitergaben, die überirdisch großen Hybride … Alles das ließ jeden vernünftigen Gedanken wie ein Atemwölkchen an einem kalten Morgen verpuffen. Stattdessen war da dieses Gefühl von Hysterie. Was tat sie hier? Wie kam sie auf die Idee, dass diese Wesen ihnen zuhören würden? Es überhaupt konnten? Wieso bestimmte ausgerechnet sie, eine Befehlshaberin, gegen die gerade gemeutert worden war, was an diesem trostlosen Punkt der Welt zu geschehen hatte?
Die erste Reihe des mittleren Blocks setzte sich nun vom Rest ab. Wie Spinnen bewegten sich die Wüstenkrieger rasch und lautlos über die Düne nach unten, direkt auf sie zu. Sie waren bewaffnet. Womit konnte Siralen auf die Distanz nicht ausmachen.
„Wartet!“, schrie sie so laut sie konnte. Sie betete im Stillen, dass der Slarpon bald übersetzte. Er konnte es erst, wenn er die Sprachen eine Weile in sich aufgenommen hatte. „Wir sind hier, um euch vor einem großen Unglück zu warnen!“ Es war das Erste, was ihr einfiel, das Erste, das nach einer friedlichen Absicht klang und zugleich eine gewisse Dringlichkeit verlauten ließ.
Die Wüstenwesen blieben stehen, aber eine Antwort bekam sie nicht. Stattdessen erklang ein neuer, rasselnder Befehl, und einen Wimpernschlag später rasten spitze, kleine Geschosse auf sie zu. Mit einem lauten Knirschen klappten die Schilde der Zehn-Mann-Eskorte vor ihr und den anderen zusammen und bohrten sich mit einem Krsch in den Sand.
„In Deckung!“, erscholl es, und Siralen, Chara und der Rest der Gesandtschaft der Allianz-Armee ließ sich hinter der Schildwand auf den Boden fallen. Kleine, scharfkantige Steine ratterten hagelkörnergleich über das Metall und erzeugten ein leises Echo. Die scharfen Geschosse hätten ihnen blutige Löcher ins Fleisch gerissen, wären ihre Soldaten nicht so perfekt gedrillt.
„Die sind nicht zum Reden aufgelegt“,