Chara hatte recht. Die Scorpios wollten nicht reden. Sie wollten nur eines – die Fremden, die mit ihren Schiffen aufgetaucht und ihr Land besetzt hatten, so schnell wie möglich wieder loswerden.
„Und jetzt?“
Die Vorhut der Scorpios machte sich bereit zum nächsten Schuss.
Chara sprang von ihren Knien in die Hocke und trat einen der Schilde zur Seite. „Schangra!“, rief sie den Scorpios zu. „SSSCHANGRA!“
Der Ruf kam zu spät. Die nächste Salve war bereits im Anflug. Die Steinchen rissen einem der Goygoa und einem der Soldaten blutige Wunden in Arme und Beine. Dann senkten sich die Waffen, und Siralen hielt den Atem an. Eine Weile herrschte Totenstille. Kannten diese Bestien etwa ihren Artverwandten, der, Al’Jebal zufolge, vor mehr als zehn Jahren in Amalea aufgetaucht war? Wenn ja, musste Schangra ein namhafter Vertreter ihres Volks gewesen sein.
Der Schwarze auf der Düne ließ ein langgezogenes, rasselndes Zischen vernehmen. Die Trommeln hoben erneut an, und die Scorpios rückten vor.
Endlich gellten auch die Befehle O’Haras über den Talkessel. Die rechte und linke Flanke aus Bogenschützen setzten sich in Bewegung und bezogen Stellung im Talkessel.
Kerrim versetzte Chara einen Schlag gegen die Schulter. „Wir müssen verschwinden von ħier!“
Weit waren sie mit ihrem Versuch der Kontaktaufnahme nicht gekommen. Am Ende hatte Ata einen durchschossenen Ellbogen und einer von Siralens Begleittrupp mehrere Einschusslöcher in seinen Beinen. Sie kehrten im Laufschritt zurück zu ihrer Position auf dem Felsplateau und bezogen vor O’Haras Soldaten Position. Alles auf Anfang.
Chara spähte zu Lindawen. Sie wollte reden, doch der Moment verstrich, ohne dass ihre Lippen sich bewegten – wieder einmal.
„Zauberkundige vor!“, brüllte Brigadier O’Hara. Hinter der linken Flanke aus Fernkämpfern verließen nun auch die Magier die sichere Erhebung und rückten in den Wüstenkessel vor – sie und etwa hundert Plänkler, die den Auftrag hatten, die feindliche Blockformation aufzubrechen und im Idealfall zu zerstreuen. Wieder verstummten die Trommeln und die Skorpionkrieger blieben stehen.
Die Zauberkundigen, Bogenschützen und Plänkler hatten im Talkessel gerade Schussdistanz erreicht und machten sich zum Angriff bereit, als sich plötzlich der Boden in Bewegung setzte. Der Sand unter ihren Stiefeln begann zu rieseln, dann zu brodeln. Es sah aus, als würde er sich verflüssigen. Gelbgrauen Schemen gleich gruben sich Körper an die Oberfläche und nahmen allmählich Gestalt an. Zangen, Stachelschwänze, Spinnenbeine, muskelbewährte Torsi … und im Gegensatz zu ihren Artverwandten auf den Dünen nur leicht gerüstet.
Perfekt an ihre Umgebung angepasst, perfekt gestaltet, perfekte Krieger. Die Scorpios, die vor ihren Augen aus dem Boden krochen, waren sandfarben, etwas kleiner als der Rest und sehr, sehr schnell. Sie tauchten aus dem Wüstensand und stießen zu wie ein Schwarm wütender Hornissen. Ihre eigenen Leute hatten keine Chance. Von allen Seiten wurden sie von den sandfarbenen Skorpionmenschen attackiert. Sie töteten mit ihren Stacheln und zerrissen Körper mit ihren Scheren. Und als wäre das nicht genug, hatten sie auch noch Klingen dabei. Wie Menschenkrieger ihre Kettenwaffen schwangen, schwangen sie ihre giftigen Schwänze, und ihre Scheren arbeiteten sich wie die Sensen eines Schnitters durch die Bogenschützen und Plänkler. Danach waren die Zauberkundigen an der Reihe, die gerade mal genug Zeit gehabt hatten, um ein paar Feuerbälle und Blitze auf sie zu werfen. Ein paar Chitinpanzer fingen Feuer. Ein rasselndes Kreischen kündete von einem, zwei, drei Treffern und möglichen Schmerzen der getroffenen Kreaturen. Ein paar von ihnen brachen zusammen und schienen kampfuntauglich zu sein. Es waren zu wenige.
Schreie drangen aus dem Wüstenkessel. Irgendwo hinter sich vernahm Chara Jamaharons Stimme:
„Ich hätte es wissen müssen. In die Wüste gehen und Kontakt herstellen … Ein ganz und gar ausgereifter Plan. Nicht auszudenken, wie viele fähige Zauberkundige heute ihr Leben lassen.“
Er hatte recht. Von hier oben sah es aus, als würde keiner der Vorhut überleben. Es war das reinste Gemetzel. Keine Chance für alle auf zwei Beinen. Die Achtbeiner machten Hackfleisch aus ihnen.
Hilflos standen sie auf dem Felsvorsprung und sahen zu, wie der Sand dort unten immer neue Skorpionkrieger ausspuckte.
„Und ich sah, wie sich der Schatten teilte. Es wurden derer viele. Sie alle krochen aus dem Wüstenboden. Und sie alle waren mehr als bloße Dunkelheit …“
Wie wahr. Wie treffend es Saadira Haaland formuliert hatte. Wie einmalig dieses Bild und die lebende Entsprechung, die vor Charas Augen ihre tödliche Macht entfaltete. Köpfe fielen. Bunte Magierroben fielen in sich zusammen, als wären sie nichts als leere Hüllen. Bögen und Armbrüste wurden in den Sand geschleudert und bildeten mit den blutroten Flecken ein seltsam abstraktes Muster auf dem blassgelben Grund.
Dort unten im Wüstenkessel hauchte ein Alliierter nach dem anderen sein Leben aus. Die, die O’Hara nach vorne geschickt hatte, starben, ausnahmslos alle.
Das Blut in Charas Adern begann zu kochen. Sie fühlte, wie sie der Wahnsinn packte, konnte sich kaum noch davon abhalten, die sichere Plattform zu verlassen und sich in den Kampf zu stürzen. Doch die warnende Stimme in ihrem Kopf ließ sich nicht beirren. Warte! Halte still! Es ist der falsche Zeitpunkt! Der falsche Gegner! Der falsche Kampf!
Ein Blick zur Seite offenbarte ihr Siralens blasses Gesicht. Die Elfe sah aus, als hätte sie gerade begriffen, dass hier allein der Kampf noch einen Reiz hatte. Die Vorsicht der Diplomatin verlor sich im Zorn der Kriegerin. Die fein gezeichneten Züge der Elfe erhärteten, die Narbe auf ihrer Wange gewann an Schärfe. Als wäre sie Teil einer Kriegsbemalung …
Es wurde wieder still im Wüstenkessel. Dort unten sah es jetzt aus wie auf einem Hackbrett: zerrissenes Fleisch neben einem Schwarm von Insekten. Nur waren es keine Fliegen, die sich dort unten tummelten, sondern riesige Skorpione mit menschlichen Torsi.
Chara blickte über das Schlachtfeld hinweg und verfolgte, wie der große Schwarze auf der höchsten Düne neue Kommandos rief. Dann vernahm sie ein Flüstern und stellte fest, dass sich ihre Lippen bewegten: „Kommt schon. Kommt her!“ Sie umklammerte ihre Zweililie so fest, dass das Leder des Griffs schweißnass wurde. „KOMMT ENDLICH!“ Jetzt schrie sie und Siralen fiel in ihren Schrei ein: „KOMMT HER UND KÄMPFT!“
Und sie kamen. Der dunkle Teppich aus Chitinpanzern schob sich die Dünen hinab über den Talkessel auf sie zu. Schwarz, sandfarben, braun … Die Kreaturen der Wüste rollten heran wie ein tödliches Unwetter. Die Scorpios zogen ihre Waffen, die sie nicht brauchten, und zischten ihre demoralisierenden Parolen, die niemand verstand.♫
„Jaaa“, lechzte Chara. Wie Lava schoss das Blut durch ihre Adern. Eine Schweißperle löste sich von ihrer Stirn und tropfte auf ihre Hand. Siralens Schwertarm berührte ihre linke Schulter.
„Wir werden sterben“, flüsterte die Elfenkriegerin.
„Ja. Aber bei den Dämonen, eines von diesen Viechern nehmen wir mit.“
Siralen nickte. „So sei es. Einer von ihnen wird mit uns ins Alleine gehen.“
In diesem Augenblick ging die Sonne hinter den Dünen auf und ihr gleißendes Licht traf wie tausend Lanzen auf Siralens und Charas Augen.
Irwin MacOsborn zitterte, als herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt. Der Fels, hinter dem er kauerte, war nicht groß genug, um sich erfolgreich dahinter zu verstecken. Sie würden ihn finden, und dann würden sie ihn töten. Es sei denn … Vielleicht siegten sie ja. Immerhin hatten sie ein paar unglaubliche Krieger in ihren Reihen. Man dachte nur an Chara und Ragna MacGythrun … Letzterer durch einen einzigen Faustschlag von der Flok ins Jenseits befördert. Monoch möge ihn in seinen Eishallen willkommen heißen! Dann waren da noch die vielen Soldaten, allesamt bestens ausgebildet. Die KEZS und die erhöhte Position, von der aus sie kämpften … Aber besonders jemand, der wie er ein bisschen vom Militär und von der Kriegsstrategie verstand, wusste, dass sie verloren waren.
Die ersten Reihen der Skorpionmenschen erreichten