Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende. J. H. Praßl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J. H. Praßl
Издательство: Bookwire
Серия: Chroniken von Chaos und Ordnung
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948695712
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Es gab nun mal keinen Elfen, den die Hitze kalt ließ.

      Ein Blick zur Seite signalisierte Siralen, dass sie noch immer an dem kleinen Flüsschen entlangmarschierten, das sich Richtung Westen durch die Wüste schlängelte. So würden sie sich bis zur von den Zauberkundigen gesichteten Quelle durchschlagen und danach das lebensspendende Wasser Richtung Südwesten verlassen, um in die „echte“ Wüstenödnis vorzustoßen. Damit sie den tödlichen Kreaturen begegnen konnten, die sich am Rande des gesichteten Hügellandes aufhielten und sie aller Wahrscheinlichkeit nach erwarteten.

      „Ich hab’s ja gesagt!“, drang MacOsborns verzweifelte Stimme an ihre Ohren. „Die Sonne versengt mir die Haut. Gibt es denn niemanden, der meinen Sonnenschirm reparieren kann?“

      Es gab jedenfalls niemanden, der es für wert befand, Irwin MacOsborn zu antworten.

      Siralen zog sich die Kapuze ihrer Leinentunika über den Kopf und schielte erneut zu Chara. Sie verbarg ihr Gesicht bereits unter einem schwarzen Schal. MacOsborn hingegen … Siralen musste lächeln. Vielleicht sollte sie ihm den Gefallen tun, ihm ihr Tuch zu reichen, damit er sein Gesicht darunter verbergen konnte. Andererseits … Nachdem sie noch vor Mittag ein Lager aufschlagen würden, sollte der Barde die Folgen des Sonnenglasts eigentlich überleben.

      „Nicht schlapp machen, Irwin!“, rief Chara über die Schulter. „Noch zwei Glas, dann bist du die Sonne für ein Weilchen los.“

      Nicht schlapp machen, Siralen!, sagte sie sich selbst. Jeder schweißtreibende Schritt weiter in die mörderische Wüste machte die Last auf ihren Schultern schwerer. Was erwarteten die Soldaten von der Kommandantin der Landstreitkräfte, wenn sie erst dem Feind gegenüberstanden? Wie viele Fehler würden ihr in der kommenden Schlacht unterlaufen? Denn sie ging davon aus, dass es eine Schlacht geben würde. Eine große, eine vernichtende. Vielleicht ihre letzte. In Gedanken zeichnete sie ein Bild von Schangra, einem monströsen Ungetüm, mindestens doppelt so groß wie ein Mensch und mindestens dreimal so gefährlich wie ihre fähigsten Krieger …

      Endlich verzog sich die Hitze und Chara blieb stehen. Es war dämmrig geworden, und die Nacht würde bald über die Wüste hereinbrechen.

      „Eilmarsch!“, donnerte der Befehl des Brigadiers über die Köpfe der Soldaten hinweg, die sofort einen Zahn zulegten. Nicht mehr lange, und Lindawen würde an ihrer Seite auftauchen, so, wie er es auch die letzten zwei Tage während ihres Fußmarsches getan hatte. Nicht mehr lange, und sie würden das Nachtlager nebeneinander aufschlagen. Nicht mehr lange, und sie würde neben dem Lichtjäger liegen, und sich einmal mehr fragen, was sie so eng aneinanderfesselte, dass sie den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn zu verlieren. Lindawen hatte ihren Handel mit den Dragatisten vertuscht und sie damit geschützt. Aus Liebe? Aus Pflichtgefühl dem Sandkorn gegenüber? Oder weil er sich einen bestimmten Nutzen davon versprach? Weil er an ihr dranbleiben und dafür ihr Vertrauen gewinnen musste – als Lichtjäger, als ein das Chaos jagender Elfenspion, der sie als Chaossympathisantin entlarvt hatte und sein Naheverhältnis zu ihr ausnutzen wollte?

      Die Wüste hatte sie verschlungen. Seit sie das Flüsschen hinter sich gelassen und gen Südwesten gezogen waren, fühlte es sich an, als würde ihr Trupp Schritt für Schritt im Sand verloren gehen. Und Chara spürte das anhaltende Verlangen, sich selbst in dieser Ödnis zu verlieren. Ihr neues, herrenloses Ich. Die Wüste war wie ein Spiegel ihrer selbst – leer, gleichförmig und ohne sichtbare Grenze, an der man sich orientieren konnte. Verloren zu gehen war ein verlockender Gedanke – in Lindawen, in der Mission, die sie vor einem Jahr und vier Monden begonnen hatte, in sich selbst, wo nichts war … Plötzlich erschienen ihr Lask Cischs Worte wie die Rettung aus der Nichtigkeit aller Dinge, wie ein Wegweiser, der sie aus der Orientierungslosigkeit führen konnte:

      Doch ich ziehe in Zweifel, dass dieser Weg, dass der einfache Weg der weisere ist.

      Das waren seine Worte gewesen. Das waren ihre Worte.

      Ihr alle, die ihr da draußen zusammen mit mir um die Wahrheit kämpft und Licht ins Dunkel bringen wollt – denkt nach! Erschafft euch neu, findet Prinzipien, die es würdig sind, ihnen zu folgen. Erkennt die Grenzen, doch nehmt sie nicht als endgültig wahr. Wenn ihr einen Weg findet, überrennt sie, sprengt sie, schreitet über sie hinweg. Das ist es, was das Chaos beherrscht und wofür es sich lohnt, chaotisch ambitioniert zu sein …

      Drei Glas später fand Chara sich auf ihrer Lagerstatt unter freiem Himmel wieder. Sie konnte nicht schlafen. Lindawen neben ihr schlief prächtig, oder zumindest tat er so als ob.

      Sie hatten auf einem steinernen Plateau über einem Talkessel nahe dem Hügelland ihr Lager aufgeschlagen. Nördlich und nordwestlich des Plateaus wuchs schroffer Fels in den Himmel. Es war die dritte Nacht nach ihrem Aufbruch vom Stützpunkt. Die ersten beiden hatten sie ohne unliebsame Unterbrechung überstanden.

      Chara starrte in die Dunkelheit. Es war kalt geworden, eine jener Wüstennächte mit sternenklarem Himmel. Es würde eine von vielen schlaflosen Nächten werden. Wie lange schlief sie eigentlich schon nicht mehr? War Al’Jebals Freispruch der Auslöser für ihre Schlaflosigkeit gewesen? Oder die Nacht mit Lomond? Oder … Wann hatte das Problem mit der Schlaflosigkeit angefangen?

      Chara warf sich frustriert auf die andere Seite. Einen Lidschlag später war sie eingeschlafen.

      Die Sonne stand im Zenit und brannte unbarmherzig auf den staubigen Boden in dem Wüstenkessel hinab, trocknete ihn aus, riss seine Haut auf, bis sie unter all dem Sand brüchig und schorfig geworden war. Hier und da lag wie irrtümlich fallengelassen ein Felsen oder Stein.

      Eine Vibration wie von einem leichten Erdbeben erschütterte den Boden dort unten in der Senke. Seltsam unnatürlich in einer leblosen Ödnis wie dieser … der Sand brodelte wie kochendes Wasser. Als gäbe es knapp unter der Oberfläche dieser schorfigen, trockenen Wüstenhaut Leben. Ein Leben, das für eine Umgebung wie diese bestens getarnt war. Eines, das es gewohnt war, sich unter dem Sand zu verstecken, und allen Grund hatte, dort zu lauern. Ein Leben, das trotz seiner enormen Größe verdammt schnell und verdammt leise sein konnte.

      Das kaum erkennbare Brodeln schien sich durch den ganzen Wüstenkessel fortzusetzen. Unzählige kleine Erdbeben, die den Sand über den Boden tanzen ließen wie Perlen über Schiffsplanken.

      Dann wurde es wieder still, reglos. Die Wüste schien sich zu beruhigen, abzuwarten. Als wüsste sie, dass die Stille trügerisch war. Als spürte sie ein leises Kitzeln unter ihrer ausgetrockneten Haut. Als fühlte sie, dass etwas darunter unruhig scharrte und kurz davor war auszubrechen.

      Eine heftige Unruhe fuhr ihr in die Glieder, und sie warf sich auf die andere Seite. Das Bild der Wüste zerfiel. Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit und kam auf sie zu. Sie war … sie sagte etwas … Ihre Worte, ihre Stimme … bemächtigten sich ihres Verstandes und zogen sie in eine seltsam vertraute Schwärze …

      „Während ich schlafe, ändert Liebe ihre Tonart.

      Ich leere meinen Geist, und eine Erinnerung verblasst.

      Während ich schlafe, wird eine neue Sonne geboren,

      in völliger Ruhe tobt am Horizont ein Sturm.

      Während ich schlafe, treiben Rätsel und Geschichten

      unaufhaltsam auf ihr wahres Schicksal zu.

      Während ich schlafe, werden Würfel neu geworfen,

      ich schlucke Feuer und ersticke an der Glut …“♫

      Ich trage die Verantwortung, viele tapfere Männer und Frauen zu kommandieren. Aber wer bin ich für sie? Eine Elfe, entrückt und fremdartig. Die erste und wichtigste Schlacht, die ich schlagen muss, findet in den Köpfen derer statt, die ich kommandiere. Doch nicht nur ihre Köpfe, auch ihre Herzen will ich gewinnen. Ich muss mich bewähren, sie zum Sieg führen. Dann werden sie mir eines Tages aus Überzeugung folgen. Nicht, weil sie keine Wahl haben, sondern weil sie es wollen.

      Nun gilt es aber einmal mehr zu gewinnen – nicht die Gunst der Soldaten, nicht den Krieg, sondern das Vertrauen einer uns völlig fremden Lebensform. Noch kann ich nicht sagen, was da auf