Chara hatte sich gerade ihres Rucksacks entledigt, die Stiefel ausgezogen und in ihre Ecke der Kajüte geworfen, als die Tür aufging.
„Hat es dich geärgert, dass ich dir den Schuss verweigert habe?“, murmelte sie, ohne aufzusehen. Stattdessen fischte sie in ihrer Truhe nach einem Handtuch.
„Nein.“ Es klickte, als sich die Tür leise schloss. „Der Schuss wäre nur die sicherere Variante gewesen.“
Chara warf sich das Tuch über die Schulter und stand auf. „Mag sein. Aber nicht die befriedigendste.“
„Nicht für dich.“ Chara drehte sich um. Lindawen hängte gerade Bogen und Köcher neben die Tür und löste die Schnallen seiner Rüstung. „Gehst du an Deck?“
„Ja. Schätze, ich sollte mich mal wieder waschen.“
Ein halbfertiges Lächeln hob seinen Mundwinkel. „Haben wir heute noch etwas vor?“
Schön wäre wenn. Gut wäre auch, wenn sie überhaupt mehr miteinander täten. Aber nach Lindawens Geständnis hatte sich der Abstand zwischen ihnen vergrößert. Chara wusste nicht, wie sie mit dem Lichtjäger und seiner Rolle in ihrem Leben umgehen sollte. Sie verstand Lindawen nicht. Sie verstand sich selbst nicht. Sie verstand einfach nichts von diesen Dingen, die Siralen so leicht von der Hand zu gehen schienen. Liebesdinge …
„Keine Ahnung, haben wir?“, spielte sie den Ball zurück.
Er legte Arm- und Beinschienen ab und verstaute sie in seiner Truhe. „Wenn du es willst?“
Genau das war es. Das machte sie so wütend. Er reagierte nur auf sie und ihre Wünsche, anstatt selbst etwas zu wollen. Vielleicht waren Elfen einfach so. Vielleicht gehörte es sogar zu ihren Stärken, zu beobachten und auf die Zeichen des Gegenübers adäquat zu reagieren. So ging man ja auch bekanntlich jedem Konflikt aus dem Weg. Und nach allem, was Chara über das Volk aus Albion in Erfahrung gebracht hatte, mied es direkte Konfrontationen in der Regel – vermutlich, um das innere Gleichgewicht ihres Alleinen nicht zu gefährden.
Chara zog ein sauberes, knielanges Hemd aus der Truhe und begab sich mit Hemd und Handtuch kommentarlos zur Tür.
„Chara …“
Sie öffnete die Tür und spürte, wie Lindawen hinter sie trat. Seine Finger strichen über ihren Nacken und glitten dann zwischen die Schulterblätter, wo sich erst seit kurzem ihre neue Tätowierung befand.
„Du hast mir noch nicht gesagt, was es bedeutet.“
Chara holte tief Luft. „Vielleicht, weil es keine Bedeutung hat.“ Vielleicht, weil es mir alles bedeutet.
„Es ist schön.“
„Du musst es ja wissen.“ Immerhin war Schönheit in den Augen Lindawens das höchste Gut.
„Ich habe Euch nicht für so oberflächlich gehalten“, hatte sie damals geantwortet.
„Es gibt nicht nur äußere Schönheit, Chara“, hatte er dagegengehalten. Das war ein halbes Jahr her. So lange gab es sie beide schon. Aber was am Anfang so einfach schien, war plötzlich kompliziert geworden. Am Anfang war es ein Spiel gewesen, ein Kräftemessen, ein Risiko … Damit hatte sie umgehen können. Jetzt hatte er es ausgesprochen. Er hatte ihr gesagt, was er für sie fühlte: „Du verstehst es noch immer nicht, oder? Ich liebe dich …“
Ja, genau das hatte er gesagt. Chara trat durch die Tür, und Lindawens Berührung endete abrupt.
„Bis dann“, sagte sie und setzte sich Richtung Mannschaftsquartier in Bewegung. Als sie die Treppe zum Hauptdeck hochgestiegen war und sich vor dem Waschfass unterhalb des Vordecks entkleidet hatte, griff sie sich wie selbstverständlich in den Nacken. Die feine Narbe, die Noks Tätowierung hinterlassen hatte, war noch spürbar. Chara fuhr mit dem Finger die vier Lichtlanzen nach, die zwischen den flammenden Strahlen aus dem Kugelleib stachen. Licht und Dunkel in ein schlichtes, schwarzes Zeichen gegossen … Die schwarze Sonne.
Die Wüste
Es war lange vor Morgengrauen des Naondags in der ersten Trideade im Bärenmond 349 nGF, als sich die Soldaten des zweiten Bataillons zusammen mit einer Einheit der Kermes-Elite-Zwergensöldner, der Einfachheit halber auch KEZS genannt, einer Gruppe Zauberkundiger unter Magus Secundus Minor Mirok Jamaharon und einem Trupp Assassinen, darunter vier Schwarze, hinter dem Nordtor zum Aufbruch in die Wüste sammelten. Es war das erste Mal, dass Siralen zusammen mit den berühmtberüchtigten Zwergenkriegern in einen Kampf ziehen sollte. Und ohne es je laut gesagt zu haben, sie war neugierig auf die kriegerische Leistung der exzentrischen Zwerge.
Der Morgen würde noch eine Weile auf sich warten lassen. Gut so, denn die Wüste folgte ihren eigenen Gesetzen. In ihr war die Nacht die eindeutig bessere Wahl, um einen Gewaltmarsch der geplanten Art hinter sich zu bringen. Die Hitze des Tages zwang bisweilen auch die hartgesottensten Krieger in die Knie.
Noch am Vortag wurde die Meldung seitens der Magier laut, dass gut achtzig VALM westlich des Stützpunktes aller Wahrscheinlichkeit nach die Schatten aus der Wüste gesichtet wurden – unbekannte Kreaturen, die lediglich erkennen ließen, dass sie größer als Menschen waren und, den Spuren nach zu urteilen, acht Beine hatten. Sie hielten sich am Rande eines Hügellandes auf, in der näheren Umgebung einer Oase. Etwaige Siedlungen hatte man nirgendwo finden können. Wahrscheinlich lebten diese Wesen wie Tiere unter dem Sand … Das war, zugegeben, reine Spekulation.
Mit der Sichtung des Feindes stand auch die Marschrichtung fest. Die Marschformation folgte auf dem Fuß, als der neue Brigadier O’Hara zusammen mit der Offizierin des zweiten Bataillons Sislin Frejasdöttir, einem Unteroffizier und zwei Unteroffiziersanwärtern vor seine Männer trat und in knappen Worten seine Instruktionen gab: „Lockere Formation in Kolonne! Eilmarsch bis Sonnenaufgang! Danach Schritttempo!“
Allein die Art des Befehls war Siralen fremd. Als Kommandantin der Albionischen Streitkräfte hätte sie es wohl ungefähr folgendermaßen formuliert: „Nehmt am besten keine starre Formation ein, bewegt euch in einer Kolonne und schreitet zügig voran. Sobald die Sonne aufgeht, wäre es ratsam, das Tempo zu drosseln, um der Hitze ihre destruktive Macht zu nehmen.“ Siralen war sich relativ sicher, dass sie mit dieser Art der Befehlsausgabe hier nicht weit gekommen wäre.
O’Hara bekam auf jeden Fall, was er wollte. Die Truppen formierten sich in achtundzwanzig Kompanien und bildeten eine zehn Mann breite Kolonne, bevor der Brigadier zum Aufbruch rief. Zwei Aufklärungskompanien waren bereits losgezogen und sicherten das Gebiet, das vor ihnen lag. Das Tempo war den nächtlichen Temperaturen angepasst und zu Beginn des Marsches zügig. Alles lief planmäßig, und hätte Siralen nicht das untrügliche Gefühl, sie liefen in eine Falle, wäre die Expedition in die Wüste nichts weiter als ein Routineeinsatz zur diplomatischen Kontaktaufnahme mit einem potentiellen Verbündeten. Indes, der Stern, unter dem sie wandelten, leuchtete nicht.
Am Vorabend hatte der neue Brigadier Siralen aufgesucht, um mit ihr nochmals über die betrüblichen Vorfälle am Stützpunkt zu sprechen und Maßnahmen für die Zukunft zu treffen. Die Wahrheit war, es gab keine Maßnahmen. Es gab nur zwei Kommandierende, die sehr unterschiedliche Methoden hatten, ihre Truppen zu führen. Es gab Siralen Befendiku Issirimen und Agawen O’Hara. Der Gedanke fiel von ihrem Verstand in ihren Bauch und hinterließ ein hohles Gefühl in ihren Eingeweiden. Vieles war schwieriger geworden, als es zu Anfang der Mission gewesen war.
Siralen prüfte ein letztes Mal den Inhalt ihrer Gürteltaschen, schnallte den Gürtel enger und ließ ihren Blick über die marschierenden Soldaten schweifen. Die Sichtverhältnisse waren aufgrund des hellen Sandes selbst im Dunkeln recht gut. Bei Chara und ihren Leibwachen, die sich unmittelbar vor der Soldatenkolonne aufhielten, machten ihre Augen Halt.
Chara … Die Assassinin hatte einmal mehr bewiesen, dass sie auf ihrer Seite stand. Oder stand sie genau dort, wo sie sich den größtmöglichen Nutzen für sich und ihre Ambitionen als Al’Jebals Handlangerin versprach? Ein Kopfschütteln war die einzige Antwort, die Siralen sich selbst geben wollte. Chara kämpfte für ihre eigenen Überzeugungen. Und die deckten sich im Augenblick mit ihren, was die Assassinin