Ich brauche einen Adjutanten, dachte Siralen und betete zum Weltgeist, er möge diese undankbare Situation beenden. Jemanden, der mir zeigt, was es bedeutet, ein menschliches Heer anzuführen.
„Waffen wegstecken!“, sprach O’Hara endlich ein Machtwort. „Wir haben Brigadier Ragna MacGythrun die letzte Ehre zu erweisen.“
Sedag, 1. Trideade im Bärenmond / 349 nGF
Die Welt ist keine Scheibe.
Sie besitzt kein Oben, kein Unten. Da ist kein Anfang, kein Ende, kein linker oder rechter Rand. Es gibt keine zwei Seiten, von denen eine brauchbar, die andere unbrauchbar wäre, weder eine, die zum Himmel zeigt, noch eine, die über dem Abgrund schwebt. In einer Welt wie dieser gibt es kein „wahr“ oder „falsch“. Es gibt keine klaren Grenzen oder die echte, absolute Freiheit.
Denn diese Welt hat keine zwei Seiten. Sie hat überhaupt keine Seite.
Es gibt nur ein Gesetz in dieser Welt, die keine Scheibe ist – den Wandel.
Es gibt nur einen wirkungsvollen Blickwinkel in einer Welt wie dieser, die keine simple, duale Sicht der Dinge zulässt. Jene Sichtweise, die so viel an Eindrücken zulässt, wie wir wahrzunehmen imstande sind. Wir können im Augenblick des Entscheidens nur versuchen, alles zu erkennen, was ist und um uns herum wirkt. Und während wir, von der Unzahl an Eindrücken geplättet, zu verstehen beginnen, dass wir unmöglich alles erwägen können, macht sich unsere Intuition bemerkbar. Sie ist die Rettung aus der Verwirrung, ein fassbarer Hinweis in einem unfassbaren Gewirr von Halbwahrheiten und Scheinerkenntnissen.
Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, was richtig oder falsch ist, gut oder böse, sinnvoll oder unsinnig. Niemand von uns. Ob wir nun herrschend oder dienend sind, wegweisend oder gewiesen.
Worin besteht die Bürde eines Kommandanten?
Wo ein Licht leuchtet, dort fällt zweifelsfrei auch ein Schatten. Und weil es ein Wahr oder Falsch nicht gibt, wird der Kommandant stets von beidem begleitet – Hell und Dunkel. Seine Entscheidungen sind nie nur richtig und selten nur falsch. Meistens sind sie beides.
Ragna MacGythrun ist tot. Dies war meine Entscheidung. Es war einer dieser Momente, in denen mich meine subjektive Wahrnehmung ein Urteil fällen ließ, das relativ richtig oder relativ falsch sein muss, aber in jedem Fall nicht die ultimative Lösung des Problems darstellt, die es nicht gibt.
Ragna ist tot. Für ihn ist es irrelevant, ob sein Tod richtig oder falsch ist, oder ob irgendein Problem dadurch gelöst wurde. Die Probleme, die er zu lösen versuchte, sind für Ragna Vergangenheit, seine Sicht der Dinge hinfällig. Für Ragna gibt es kein Morgen mehr, das es ihm ermöglicht, einen Beitrag zu leisten – weder zum Guten, noch zum Schlechten. Und diese Entscheidung traf er nicht selbst.
Ich habe für ihn entschieden. Ich entschied, dass Ragna keinen Einfluss mehr haben wird. Weder auf mich, noch auf dieses Expeditionskommando, noch auf seine Leute oder diese Mission. Ragna MacGythruns Name wird verblassen. Er wird in all dem, was noch kommen wird, untergehen. Seine Spuren, Spuren, die zweifelsohne bedeutend für alles sind, was wir noch erreichen werden, sie werden verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. Dies ist die tragische Seite an Ragnas Tod.
Ragnas Tod ist weder noch. Dass eine Entscheidung wie jene, die ich traf, ein Alles oder Nichts für meinen Gegner bedeutete, ändert nichts daran, dass sie für den Rest genau genommen nichts bedeutet. Ob Ragnas Tod sinnvoll war, kann sein oder auch nicht sein oder beides. Ragnas Tod ist damit null und nichtig. Dass ich sein Leben beendet habe, ist unwichtig.
Ja, da ist es wieder – das Drama, das mich zum Lachen reizt.
Ich wollte nicht, dass es so kommt. Ich wollte nicht, dass der Mann, mit dem ich einen Tag vor seinem Tod noch klare Worte wechselte, durch meine Hand stirbt. Und doch, als Ragna fiel, durchströmte mich ein Gefühl bodenloser Euphorie. Ich war noch im Rausch des Kampfes, dem wild pochenden Verlangen, den Feind in den Boden zu rammen. Der dumpfe Aufprall seines Körpers vor meinen Füßen versetzte mich in Hochstimmung. Doch als ich mich über seinen zerschmetterten Körper beugte, verstummte das Hochgefühl. Mein Siegestaumel wich einer seltsamen Benommenheit. Und da begriff ich zum ersten Mal, dass ich mit meinen Entscheidungen Türen zuschlage, die sich nie wieder öffnen lassen werden.
Ich nahm Ragna die Freiheit, selbst zu entscheiden. Ich beendete sein Leben. Ich beendete alles, was für Brigadier Ragna MacGythrun noch möglich gewesen wäre oder hätte sein können.
In diesem Moment, da ich meinem Gegner in die Augen sah, verstand ich, was genau es bedeutet, ein Leben zu beenden: Den absoluten Stillstand. Alle Türen geschlossen, alle Wege versperrt. Für den Toten gibt es kein Morgen. Damit verblasst sein Gestern, sein Jetzt.
Denn wer erinnert sich am Ende dieser Mission noch an den Brigadier, der irgendwann einmal dafür sorgte, dass ein Brückenkopf errichtet wurde, oder der sich darum bemühte, dass seine Kommandantin, die Elfe, mit einem Mindestmaß an Respekt empfangen wird, als sie das erste Mal vor die Augen ihrer Soldaten trat – damals auf Siralens Archipel? Wer erinnert sich an einen Mann, dessen Name nie über seine Taten hinauswachsen konnte, weil er nicht „Held der Allianz“ geheißen wurde wie jene, die ihn tötete?
Das ist die Ironie in einer Welt wie dieser.
Ob die Entscheidung, jemanden bluten zu lassen, ihn über die Klinge springen oder sterben zu lassen, gut oder schlecht ist, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob wir gute oder schlechte Kommandanten sind, denn wir sind weder noch. Wir wissen nicht, ob wir wahre oder falsche Ideale vertreten, denn kein Ideal kann als absolut bezeichnet werden. Also ist es weder noch.
Die Welt ist keine Scheibe. Es gibt keine zwei Seiten. Es gibt unendlich viele Seiten, unendlich viele Halbwahrheiten und ebenso viele Scheinerkenntnisse.
Also, warum fragen? Warum zweifeln?
Ein kurzes Gespräch
Als Chara nach diesem langen Tag und der Bestattung des Brigadiers am Abend endlich an Bord der Meerjungfrau ging und sich in ihre Kajüte zurückzog, hatte sich ein unerwarteter Gast in ihrer privatesten Kammer einquartiert. Der Gast hieß Zweifel. Er hatte sie bereits einige Male besucht. Das erste Mal, als sie von Al’Jebal den Befehl erhalten hatte, Bargh zu ermorden. Das zweite Mal musste irgendwann in Isahara gewesen sein. Doch dieses Mal war er von anderer Qualität. Nicht zu wissen, ob man mit den eigenen Entscheidungen richtig lag, war, als ob man über eine morsche Brücke lief, die jeden Moment durchzubrechen drohte. Darunter der gähnende Abgrund. Chara hatte das erste Mal ohne konkreten Auftrag ihres Namai gehandelt. Verdammt! Sie hatte ja gar keinen Namai mehr.
Nachdem der Aufstand beendet gewesen war und sich Siralen mit dem neuen Brigadier zurückgezogen hatte, um ein vermutlich nicht sehr angenehmes Gespräch zu führen, hatte Telos Chara in ihrem Zelt besucht.
„Ich bin, wie du weißt, nicht mehr der Sprecher der Priesterschaften“, hatte er gesagt, was einer Warnung gleichgekommen war. Na sicher! Dieses Amt besetzte ja jetzt ihr allerbester Freund, Oberhohepriester Laurin MacArgyll.
„Und mir ist schleierhaft, weshalb du es abgegeben hast“, hatte sie geantwortet. Dabei war ihr klar, weshalb. Telos hatte es ihr längst erklärt. Sie konnte die Erklärung nur einfach nicht akzeptieren. Telos hatte Skrupel, aufgrund seiner Befangenheit einer Expeditionskommandantin gegenüber, nämlich ihr, die falschen Entscheidungen als Sprecher der Priesterschaften zu treffen. Spätestens als Chara Lask Cischs Empfehlung, mit den Dragatisten einen Handel abzuschließen, für diskussionswürdig erachtet hatte und mit dem Gedanken spielte, dem Rat des Schicksalskünders zu folgen, war ihm klar geworden, dass er im Zweifelsfall gegen seine alte Weggefährtin vorgehen musste. Und das wollte er offenbar unter keinen Umständen. Dabei ging es hier um so viel mehr als die Prinzipientreue eines Priesters wie Telos Malakin. Nur, mit dieser Argumentationslinie hatte Chara bei Telos noch nie landen können: Der Auftrag ist wichtiger als