Bis zur Abdankung von Schultheiß, Rät und Burger im Zuge der Invasion französischer Truppen im Rahmen der Helvetischen Revolution bestimmte im 18. Jahrhundert eine seit dem Abschluss des Burgerrechts 1651 immer schmaler werdende Machtelite die politischen Geschicke von Bern. Während der Große Rat ursprünglich die Versammlung aller Burger von Bern darstellte, wurde dieser im Verlauf der Frühen Neuzeit zu einem vollzählig 299 Ratsherren umfassenden Repräsentationsorgan der Bürgerschaft, der nur noch ergänzt wurde, wenn die Zahl der Räte unter 200 fiel. Das war seit 1683 noch ungefähr alle zehn Jahre der Fall.16 In Zahlen ausgedrückt bedeutete das, dass weniger als 27% der Bevölkerung der Stadt Bern oder 1 % der gesamten Bevölkerung des Territoriums über die Menschen in Stadt und Kanton regierte. Dabei verengte sich der Kreis der regimentsfähigen Familien immer rapider, während gleichzeitig immer weniger dieser regierungsbefugten Geschlechter tatsächlich Einsitz in der Regierung nahmen. Die Ratssitze wurden durch ein komplexes Mischverfahren von Kooptation und Wahlen besetzt.17 Zwar vermochte sich der Große Rat seine Souveränität gegenüber dem Kleinen Rat in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch zu verbriefen. Dennoch verlagerte sich das Machtgefälle des auf Ausgleich ausgelegten Politsystems zwischen den beiden Räten zu Ungunsten des Großen Rats. An der Spitze der aristokratisch organisierten Stadtrepublik standen die beiden vom Großen aus dem Kleinen Rat auf Lebzeiten gewählten stillstehenden und amtenden Schultheißen, die sich jährlich in ihren jeweiligen Aufgaben abwechselten. Der Kleine Rat setzte sich aus 27 Mitgliedern zusammen, die vom Großen Rat gewählt wurden. Sie bestimmten die Traktanden des Großen Rats und verfügten durch ihre täglichen Zusammenkünfte über einen wesentlichen Informations- und Wissensvorsprung gegenüber der großen Ratskammer.18 Trotz dieser ausgeprägten Machtkonzentration gelang es der Berner Obrigkeit nicht, vereinheitlichte Verwaltungsstrukturen auf der Landschaft zu implementieren. So zeichnete sich das Territorium durch eine Vielzahl unterschiedlicher Herrschaftsverhältnisse und Partikularrechte aus, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Bestand hatten. Auch neue Abgaben waren von der Obrigkeit kaum durchzusetzen.
Ausgehend von dieser Skizze der politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse in Bern am Ausgang des 18. Jahrhunderts wird hier einerseits präsupponiert, dass die zwischen ca. 1700 und 1850 veranschlagte Zeit auch für Bern eine Episode ähnlich tiefgreifender Veränderungen war, wie es die ursprünglich begriffsgeschichtliche Konzeption der Sattelzeit in einem größeren räumlichen Kontext plausibel gemacht hat. Ereignis- und verfassungsgeschichtlich steht dies außer Frage: Bern verwandelte sich in diesem Zeitraum von einem reformierten, tendenziell reformabsolutistisch organisierten souveränen Stadtstaat, der unter dem Ancien Régime von einem oligarchischen Patriziat regiert wurde, über die Helvetik (1798–1803), die Mediation (1803–1815), die Restauration (1815–1831) und die Regeneration (1831–1848) in einen demokratisch organisierten Kantonsteil des föderalistischen Schweizerischen Bundesstaats (ab 1848), der weitgehend säkularisiert war – die Eheschließung stellte nota bene eine Ausnahme dar.19
Von einer fundamentalen Veränderung im veranschlagten Zeitraum auszugehen, legt zudem nicht nur die Verfassungsgeschichte, sondern auch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte nahe. Sie wähnt das damalige Gebiet von Bern in diesem Zeitraum zumindest in einem „Strom der Modernisierung“, also in zügiger Bewegung.20
Bezüglich der Eheschließungspraxis hat die internationale und schweizerische Verwandtschaftsforschung auf die Zunahme von Heiraten in nahen Verwandtschaftsgraden als Ausdruck fundamentaler struktureller Veränderungen hingewiesen.21 Und Foucault hat mit seinen diskursanalytischen Auseinandersetzungen zur sogenannten ‚Gouvernementalität‘, also zur Regierungslogik, längst auf die Bedeutung der Überschreitung der „biologische[n] Modernitätsschwelle“ im 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht.22 Wie noch zu zeigen sein wird, fand die Überwindung dieser Schwelle um die Jahrhundertmitte auch in Bern schrittweise statt und hatte großen Einfluss auf die Konzeption, Verwaltung und Praxis der Eheschließung.
Dennoch soll die begriffsgeschichtliche Qualifizierung der Sattelzeit in ihrem empirischen Gehalt aber nicht überschätzt werden.23 Stattdessen wird untersucht, „was von den […] strukturellen Änderungen dieser Epoche eigentlich wie ‚unten‘ […] ankommt“, beziehungsweise vor allem wie in umgekehrter Richtung das Verhalten von ‚unten‘ strukturelle Veränderungen evoziert.24
So möchte die vorliegende Arbeit zu einer differenzierteren Betrachtung des konstatierten Wandels beitragen. Dazu untersucht sie die Eheschließung im Spannungsverhältnis von Norm und Praxis im spezifischen Kontext der Stadtrepublik Bern. Dieser räumliche Zusammenhang umfasst die Stadt und das Territorium beziehungsweise das Kantonsgebiet, das sowohl Landstädte als auch ländliche Dörfer und Bergregionen einschließt. Dadurch wird weder der urbanen noch der agrarischen Kultur der Vorzug gegeben, sondern sie werden zusammen und in Wechselwirkung betrachtet. Dank diesem Zugang geraten die Eheschließungsversuche von Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten, sozialen Stratifikaten und Berufen ins Blickfeld der Analyse.
3.1 Theorie: Eigensinn, Strategie und Taktik
Um die Transformationen und deren Ursachen im Bereich der Eheschließung am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einzufangen, empfiehlt es sich, die Geschichte der Eheschließung „von den Rändern“ her zu betrachten.1 Die Ränder befinden sich dort, wo von der Norm abweichendes, also deviantes Verhalten auftritt.2 An dieser Stelle werden die eigensinnigen „Aneignungen“ jener heiratswilligen AkteurInnen sichtbar, die mit ihren konkreten Heiratsbegehren die gesetzlichen und sozialen Normen im lokalen und familiären Umfeld herausforderten.3 Durch ihr taktisches Handeln stellten sie gewollt oder unabsichtlich Konventionen in Frage und provozierten dadurch Reaktionen von OpponentInnen und strategische Urteile der Eherichter.4 Mit dieser Perspektive folgt die Studie Alf Lüdtkes Konzept des Eigen-Sinns, das im weiteren Verlauf der Arbeit mit der Handlungstheorie von Michel de Certeau kombiniert werden wird.5 Diese Handlungstheorie gewinnt ihr Profil dadurch, dass sie insbesondere benachteiligten Menschen Handlungsmöglichkeiten zugesteht, die unablässig versuchen, sich die herrschenden Strukturen anzueignen. Sie ergänzt sich sehr gut mit dem Konzept des deutschen Historikers, der seinerseits „Eigensinn“ in Anlehnung an G. W. F. Hegel als jene stark limitierte Freiheit beschreibt, die dem ‚Knecht‘ in seiner Abhängigkeitssituation bleibt.6 Dabei steht die Figur des Knechts bei Lüdtke stellvertretend für „die Besitzlosen“.7 Das trifft teilweise gut auf die hier untersuchten ehewilligen AkteurInnen zu. Tatsächlich waren sie nicht selten Knechte und die Akteurinnen Mägde in landwirtschaftlichen Anstellungsverhältnissen. In vielen anderen Fällen waren sie besitzlos oder zumindest unvermögend. Der „eigene Sinn“ dieser Benachteiligten und zum Teil Mittellosen wurde wahrnehmbar, weil er sich „gegen alle und alles“ – im konkreten Fall gegen Familie, Gemeinden, Korporationen und Obrigkeit – wenden konnte.8 Der Eigensinn bedeutet in dieser Studie die „Uneinheitlichkeit in der Auffassung von der Grundlage der Ehe und der Einstellung zur Sexualität“ der ehewilligen AkteurInnen mit den OpponentInnen und dem Gericht.9 Mit de Certeau lässt sich dann erklären, auf welche Weise und mit welchem Einsatz die am Aushandlungsprozess der Ehe beteiligten und mit unterschiedlicher Handlungsmacht ausgestatteten AkteurInnen und Gruppen ihre Vorstellungen beziehungsweise ihre Normen durchzusetzen versuchten.
Um die Konflikte an den Rändern in den Blick zu bekommen, werden für das ausgehende Ancien Régime und die Zeit nach der Helvetik bis zur Bundesstaatsgründung Ehevorhaben erforscht, die aus dem sozialen Nahraum mittels sogenannter ‚Eheeinsprachen‘ vor der zuständigen ehegerichtlichen Instanz im Territorium angefochten wurden. Die „streitig gemachte[n] Eheversprechung[en]“10 – ein zeitgenössischer Quellenbegriff –, die vor Gericht gezogen wurden, werden analysiert, weil in ihrer Verhandlung Praktiken auf Normen prallten und dadurch Reaktionen der Richter auslösten. Diese unablässigen Kollisionen führten, so die begründete Vermutung, zu jenen „kleinen Ereignisse[n]“, die in ihrer Kumulation durchaus zu größeren Veränderungen führen konnten und zumindest ihrem Potential nach transformativ waren.11 Durch die gewählte Herangehensweise werden in der vorliegenden