Einige sehr aussagekräftige Verhandlungen wurden allerdings von besonders eigensinnigen AkteurInnen vor den Rat gezogen und weitergeführt, weil eine der involvierten Parteien außergewöhnlich hartnäckig war und den Entscheid des Gerichts nicht annehmen wollte.12 Die Gerichtsfälle, die zum Weiterzug vor den Rat geführt hatten, sind Gegenstand der vorliegenden Studie. Sie werden hier herangezogen, weil sie den Eigensinn und die Persistenz der AkteurInnen in besonderem Ausmaß demonstrieren und letztendlich von oberster Regierungsinstanz, dem Rat von Bern, beurteilt werden mussten. Hier forderten ehewillige Akteur-Innen in maximaler Weise Handlungsmacht gegenüber ihrem familiären und kommunalen Umfeld ein und veranlassten das obrigkeitliche Gericht zu strategischen Reaktionen in der praktischen Normierung heraus. Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sind diese politisch aufgeladenen Eheschließungen daher in besonderem Maße aufschlussreich. Dass in der Untersuchung auch Fälle von armen und besitzlosen Personen in den Blick kommen, dafür sorgten zwei Umstände: Einerseits wurde gegen viele Urteile von den OpponentInnen rekurriert, weil sie mit dem Ausgang der Verhandlung nicht zufrieden waren. Andererseits existierte ein „besonderes Armenrecht“, das es unvermögenden Menschen erlaubte, den Fall weiterzuziehen und so ihren Eigensinn trotz fehlender Mittel durchzusetzen.13 Gleichzeitig waren, wie noch zu zeigen sein wird, an gewisse eigensinnige Ehebegehren auch Interessen einer Gemeinde geknüpft. Wenn zum Beispiel eine mittellose Verlobte bereits schwanger war, konnte das durchaus dazu führen, dass die Gemeinde der Frau kurzfristig Mittel in den Aushandlungsprozess investierte, um langfristig kommunale Ressourcen zu sparen.
Insofern beweist die Konstellation der untersuchten und hier als prekär bezeichneten Fälle eine besondere, vorerst aus dem Handeln der AkteurInnen abgeleitete Form des Eigensinns: Erstens entsprachen die aspirierten ehelichen Verbindungen nicht den Interessen, dem ‚Gemeinsinn‘ und den Rechtsvorstellungen von Verwandten, Gemeinden, ständischen Korporationen und Kirchendienern. Auf diese Weise erschienen sie per se eigensinnig, weil sie durch ihren Wunsch im unmittelbaren sozialen Nahraum Widerstand evozierten. Sie wichen von allgemeinen Normvorstellungen ab und waren somit deviant.
Zweitens mussten die Heiratswilligen zum Teil ihren Fall gegen solchen Widerstand im Sinne der „Justiznutzung“ selbstständig vor die zuständige gerichtliche Instanz in Bern ziehen.14 Die oben beschriebenen Eheeinsprachen und Zugrechtsklagen sollten eigentlich auf Amtswegen an das Oberehegericht in Bern gelangen. Denn dieses war zuständig für die Beurteilung dieser Fälle. In der Praxis untersagten aber Gemeinden wiederholt zwar die weiteren Verkündigungen, leiteten aber die Einsprüche nicht an das Oberehegericht weiter. Dadurch konnte es zu keiner weiteren Verhandlung kommen. Die Ehewilligen mussten unter diesen Umständen ihr Recht vor dem Oberehegericht selbstständig einfordern, wollten sie ihr eheliches Vorhaben in die Tat umsetzen. Gemeinden hielten das Pfarrpersonal teilweise auch ohne offiziellen Einspruch an, die obligaten Verkündigungen in der Pfarrei der Braut, des Bräutigams und allenfalls den davon abweichenden Wohnorten der beiden auszusetzen. Dadurch unterbrachen und behinderten sie den ehekonstituierenden Gesamtprozess und vereitelten die abschließende eheliche Einsegnung der Verbindung durch einen Pfarrer auf lokaler Ebene auf unbestimmte Zeit. Das konnte die Justiznutzung seitens der Ehewilligen provozieren, um den individuellen Willen durchzusetzen.
Drittens spricht für eine spezifische und besonders intensive Form des Eigensinns in den hier als prekär klassifizierten Fällen, dass die ehewilligen sowie die gegen den Ehevollzug opponierenden Parteien bei abschlägigem Urteil des Oberehegerichts dazu bereit waren, sogar gegen das Urteil des Oberehegerichts zu rekurrieren. Sie zogen den Fall bis vor die höchste Instanz, den Berner Rat. Das Rekursverfahren war entsprechend ressourcenintensiv. Den Fall aus dem lokalen chorgerichtlichen Kontext nach Bern in den Rat zu ziehen, beanspruchte Zeit, war mit unterschiedlichen physischen und psychischen Strapazen des Reisens verbunden und verzehrte Geld für die Reisekosten der Parteien und deren vorgeladene Zeugen. Die Richter, der Gerichtsschreiber und die Anwälte hatten ebenfalls ihren Preis. Auch die übrigen Verfahrenskosten und die ausgestellten Dokumente mussten bezahlt werden, sofern die Kosten vom Gericht nicht abgeschlagen wurden.15 Hinzukommen konnten je nach Beziehungskonstellation und der sexuellen Vorgeschichte des Paares, das den ehelichen Status anstrebte, Geldstrafen und ehrrührige Bußpraktiken, zum Beispiel bei Ehebrechern und unehelich Schwangeren. Diese konnten sowohl finanzielles als auch symbolisches Kapital kosten. Entsprechende Beschwerlichkeiten und Risiken ging man entweder ein, weil man unbedingt heiraten wollte, aber von der anderen Partei vor Gericht gezwungen wurde. Oder man war so eigensinnig, seinen Heiratswillen gegen ständische Hindernisse selbstständig vor Gericht und durch dessen Sanktionierung zur gemeinschaftlichen Anerkennung zu bringen.
3.3 Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale
Um die devianten und daher prekarisierten Eheaspirationen und ihren Erfolg gegen die OpponentInnen im besagten Zeitraum historisch zu untersuchen, bedient sich die Studie der Urteilsurkunden in den im Staatsarchiv des Kantons Bern eingelagerten Rekursmanualen der zuständigen richterlichen Instanz. Das höchste territoriale Ehegericht der Stadtrepublik wurde bis 1798 in den Quellen meistens als Oberchorgericht bezeichnet. Es amtete als Konsistorium des Stadtbezirks und als Appellationsinstanz für alle unteren Chorgerichte des gesamten Berner Territoriums. Auch die Chorgerichte der Munizipalstädte waren dem obersten Chorgericht unterstellt.1 Die von den Chorgerichten der Munizipalstädte Verurteilten hatten folglich das Recht auf Appellation an das Oberchorgericht in Bern.2 Letzteres tagte in der Regel jeweils am Montag und Donnerstag nach den Predigten im Ostflügel des Berner Stiftsgebäudes, das noch heute existiert und sich neben dem Berner Münster befindet.3 Dort war auch der Chorweibel untergebracht und das Chorgerichtsgefängnis befand sich ebenfalls im selben Gebäude.
In den Instruktionenbüchern zu den Ehegerichtsordnungen wurde die Besetzung des Oberchorgerichts beschrieben.4 Es bestand demzufolge aus den zwei Münsterpfarrern, vier Mitgliedern aus der Mitte des Großen Rats, wovon zwei erfahrene Amtmänner (‚ausbediente‘ Oberamtmänner) sein mussten und zwei, die bisher noch keine Chance erhalten hatten, ein Amt zu bekleiden. Damit war wohl die Absicht verbunden, Ämtererfahrung mit der Einführung in eine Ämterlaufbahn zu paaren. Abgesehen von den Pfarrpersonen durften nur verheiratete Personen in ehegerichtlichen Angelegenheiten urteilen.5 Das Präsidium sollte nach der Revision des Ehegesetzes von 1743 als Co-Präsidium durch zwei „Ehren-Glieder“ des Kleinen Rats geführt werden, wobei sich diese in ihrer Amtstätigkeit im Monatsrhythmus abwechselten und jeweils nur einer der beiden gnädigen Herren anwesend sein musste. Letztendlich bedeutete das, dass gleichzeitig stets acht Personen in das Gericht gewählt waren, von denen sieben aktiv sein konnten: zwei Co-Präsidenten aus dem Kleinen Rat, die sich das Amt teilten, dazu zwei Pfarrer, je zwei erfahrene und zwei unerfahrene Assessoren aus der Mitte des Großen Rats.6 Der Große Rat entschied im April 1774 aufgrund von unpässlichen Vorfällen, das monatlich alternierende Präsidialamt abzuschaffen und durch ein jährliches zu ersetzen. Außerdem sollte das Amt nicht mehr „den Kehr machen“, das heißt im Turnus, sondern durch „die freye Wahl der Balloten“ der Venner vor den Räten und Burger – durch Zufall – mit einem Mitglied des täglichen Rats besetzt werden.7
Um in wichtigen Angelegenheiten Beschlüsse zu fassen, sollten neben einem Präsidenten mindestens sechs Mitglieder anwesend sein. Bei voller Besetzung des Oberchorgerichts standen sich weltliche und geistliche Richter in einem Verhältnis von zwei zu eins gegenüber, wobei bei diesem Verhältnis der Präsident aus dem Kleinen Rat, dem in unentschiedenen Fällen der Stichentscheid zukam, nicht mitgerechnet ist. Um offiziell beschlussfähig zu sein, mussten neben dem Präsidenten allerdings lediglich vier Gerichtsbeisitzer präsent sein.8 Wenn kein Präsident im Gericht war, übernahm der älteste der weltlichen Assessoren den Vorsitz.
Die Verteilung von geistlichen und weltlichen Gerichtssitzen und die Stellvertretungsregelung des Präsidenten zeigen, wer in Bern das Sagen hatte: Die Kirchendiener befanden sich deutlich in der Minderheit.9 Die Stellung der Kirche drückte sich auch darin aus, dass nicht nur die weltlichen Assessoren den Eid auf die Kammer zu schwören hatten, sondern auch die kirchlichen