Anhand der umstrittenen, konfliktreichen Fälle wird ersichtlich, was vom Gericht und der Gesellschaft als ‚normal‘ erachtet wurde, also was das zeitgenössische Eheverständnis war und wogegen sich Opposition formierte.12 Beim Abschreiten der Ränder und Grenzen des Normalen stößt man in den Quellen auf jene AkteurInnen, die de Certeau als „Helden des Alltags“ qualifiziert hat, und die in seiner metaphorischen Sprache „den Chor der am Rande versammelten“ ausmachen.13 Ihre eigensinnigen Ehebegehren standen den Gesetzen und den gesellschaftlichen Normvorstellungen widerspenstig und fremd gegenüber. Um ihren Eigensinn vor Gericht durchzusetzen, mussten sie frei nach de Certeau listen- und trickreiche Taktiken entwickeln.14 Dort schlugen ihnen die Argumente der einsprechenden Opponierenden entgegen, während die Richter ihre strategischen Urteile über den Ausgang der Verhandlungen fällten.
In der Differenzierung von Strategie und Taktik folgt die Arbeit der Handlungstheorie des französischen Historikers: Die Strategie zielt auf „die Beherrschung der Zeit durch die Gründung eines autonomen Ortes“.15 Sie entwickelt dabei nicht nur laufend die Macht, diesen Ort nach ihren Rationalitäten zu organisieren und zu besitzen. Sie grenzt ihn durch strategische Handlungen auch laufend gegen außen ab. Im konkreten Fall stellte dieser Ort, den es durch die Strategen – die Berner Obrigkeit und die Eherichter – zu beherrschen galt, die Ehe dar. Bei der Erhaltung und Organisation dieses Ortes, das heißt bei der Behauptung der Herrschaftsverhältnisse konnten sie auf mächtige Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskurse zurückgreifen, die ihrerseits von ihnen produziert wurden.
Dagegen definiert de Certeau die Taktik als etwas, das gegenüber der Strategie tendenziell „durch das Fehlen von Macht bestimmt“ ist. 16 Die Taktik kennt „nur den Ort des Anderen“ und „muss mit dem Terrain fertigwerden, das ihr vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“.17
„Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig; sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen‘. […] Sie muss andauernd mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten‘ daraus zu machen. Der Schwache muss unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind. Er macht das in günstigen Augenblicken, in denen er heterogene Elemente kombiniert […]; allerdings hat deren intellektuelle Synthese nicht die Form eines Diskurses, sondern sie liegt in der Entscheidung selber, das heißt, im Akt und in der Weise wie die Gelegenheit ‚ergriffen wird‘.“18
Die verfolgte Herangehensweise legt somit den Akzent der Untersuchung darauf, dass sich die Aushandlungsprozesse rund um die Eheschließung stets in wirkungsmächtigen, aber in der Praxis immer auch manipulierbaren und daher zeitlich begrenzten Strukturen abspielten.19 Heiratswillige AkteurInnen mussten sich aufgrund ihrer eigensinnigen Ehebegehren mit gesetzlichen und bevölkerungspolitischen Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Sie wurden aufgrund ihrer eigensinnigen Vorstellungen und ihres subversiven Handelns sowohl von AkteurInnen aus dem sozialen Nahraum als auch vom Gericht geradezu zur Konfrontation gedrängt. Um sich das Privileg der Ehe trotz der Einsprachen anzueignen, waren sie gezwungen, das ihnen fremde Gesetz kreativ zu ihren eigenen Gunsten auszulegen – de Certeau hat für diese Handlung das passende Verb „umfrisieren“ verwendet.20 Im gesetzlich normierten Raum suchten die heiratswilligen AkteurInnen taktisch kreativ nach Lücken und Gelegenheiten, um ihre eigensinnigen ehelichen Interessen durchzusetzen, wenn ihre Beziehungskonstellationen nicht den herrschenden Konventionen entsprachen. Dagegen versuchten einsprechende Familien, Verwandte, Gemeinden, Korporationen und selten auch Nebenbuhler ihrerseits die Eheschließungen mit ehehindernden Taktiken zu verunmöglichen.
3.2 Begriffliches: Prekär
OpponentInnen gegen die hier untersuchten eigensinnigen Eheschließungen konnten Familienmitglieder, Verwandte, Nachbarn, Vögte, Gemeinden, ständische Korporationen oder Nebenbuhler der Eheaspiranten sein. Auch das entsprechende Gericht konnte von Amtes wegen auf den Plan treten. Durch die Einsprachen wurden die zwischen Individuen partnerschaftlich-konsensual gegebenen Eheversprechen ‚widerruflich‘. Die eheliche Einsegnung, die formale Vollziehung und Anerkennung der Ehe, stand dann auf dem Spiel und wurde ‚unsicher‘. Somit waren die Ehevorhaben in ihrer misslichen und heiklen Lage permanent gefährdet und drohten zu scheitern. Folgt man im Duden der Bedeutungserklärung und den Herkunftsangaben des Lemmas ‚prekär‘, dann handelt es sich bei den hier untersuchten Eheschließungen um solche, die den Eigenschaften dieses Adjektivs exakt entsprechen. Das deutsche Wörterbuch schreibt zur Bedeutung von prekär: „in einer Weise geartet, die es äußerst schwer macht, die richtigen Maßnahmen, Entscheidungen zu treffen, aus einer schwierigen Lage herauszukommen; schwierig, heikel, misslich“.1
Diese Begriffsdefinition schließt sich einem kulturwissenschaftlichen Konzept an, das „‚Prekarisierung‘ als einen Prozess, der nicht nur Subjekte, sondern auch ‚Unsicherheit‘ als zentrale Sorge des Subjekts produziert“, begreift.2 Es geht maßgeblich auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück. Dieser hat damit zwar eine präzedenzlose Herrschaftsform im 20. Jahrhundert charakterisiert, die mit dem Neoliberalismus einhergeht, aber in den Konsequenzen augenfällige Analogien mit dem frühindustriellen Kapitalismus aufweist.3 Seither haben verschiedene Sozialwissenschaftler*innen sich bemüht, die postulierte Beispiellosigkeit der Herrschaftsform für unsere Gegenwart besonders mit Blick auf moderne Anstellungsverhältnisse zu zementieren.4 In den Augen von Historiker*innen haben sie damit aber wenig Plausibilität für ihre These dazugewonnen, weil ihnen der fundierte historische Vergleich fehlt. Tatsächlich gleichen aber die von ihnen beschriebenen Effekte für das 20. und 21. Jahrhundert jenen Erscheinungen sehr stark, die die Unsicherheit im Zusammenhang mit der Eheschließung im 18. und 19. Jahrhundert für die hier untersuchten heiratswilligen AkteurInnen hatte.5 Die von Bourdieu beschriebene „objektive Unsicherheit“ löste bei den Menschen in Bezug auf die Eheschließung im 18. und 19. Jahrhundert ebenso „eine allgemeine subjektive Unsicherheit“ aus, die auch jene bedrohte, die von ihr nicht oder zumindest nicht unmittelbar betroffen waren.6 Die vorliegende Arbeit verwendet den Begriff, weil dieser ihren Untersuchungsgegenstand akkurat charakterisiert. Sie möchte damit historisch differenziert zur inhaltlichen Schärfung des Konzepts beitragen.
Folglich werden hier prekäre Eheschließungen in Bern am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert untersucht. Diese wiesen ein spezifisches konfiguratives Element auf: Ihnen ging ein ursprünglich einvernehmliches Eheversprechen der Brautleute voraus. Gegen dieses konsensuale Ehebegehren wurde im Nachhinein von den bereits erwähnten OpponentInnen Einspruch erhoben. Entsprechende Ehehindernisse wurden geltend gemacht, um den Vollzug der Eheschließung durch die Einsegnung des Pfarrers in der Kirche zu verhindern.7 Dazu wurden sogenannte ‚Eheeinsprachen‘ oder ‚Zugrechtsklagen‘ zunächst vor dem Pfarrer oder lokalen Chorgericht geltend gemacht.8 Dies geschah jeweils in Reaktion auf das Eheaufgebot, das in Bern durch die sogenannten ‚Kanzelverkündigungen‘ durch den Gemeindepfarrer geschah. Die Verkündigungen hatten an drei aufeinander folgenden Sonntagsgottesdiensten von der Kanzel in der Kirche der Heimat- und Wohngemeinde der Ehewilligen zu erfolgen. Sie waren in der Chorgerichtssatzung, dem Berner Ehegesetz, kodifiziert und obligatorisch. Allerdings bestand vor der Helvetik (1798–1803) für Angehörige des Patriziats, der hohen Beamtenschaft und des Klerus die Möglichkeit der Dispensation.9 Für alle anderen Personen diente das Rechtsinstitut als offizielle öffentliche Ankündigung einer gewünschten Eheschließung, weshalb durch die untersuchten Einsprachen potentiell weite Teile der bernischen Bevölkerung aus unterschiedlichen Ständen und Schichten ins Spektrum der Untersuchung kommen. Die Verkündigungen ermöglichten kommunale, korporative und verwandtschaftliche Kontrolle und die Zurückweisung ehelicher Ansprüche. Damit sollten klandestine Ehen gegen den Willen und die Interessen der involvierten Familien, Gemeinden und Korporationen sowie Bigamie verhindert werden. Insofern waren prekäre Ehen durchaus „das Produkt eines politischen Willens“.10 Die deponierten Eheeinsprüche sollten dann ex officio vor das territoriale beziehungsweise kantonale Ehegericht gelangen. Die Mehrheit der Fälle, die vor dem Oberehegericht landeten, wurde durch dessen Urteil abgeschlossen. Gerichtsverhandlungen und Rekurse kosteten viel Geld, mussten folglich finanziert werden und waren zeitaufwendig. Die