Prekäre Eheschließungen. Arno Haldemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arno Haldemann
Издательство: Bookwire
Серия: Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783739805719
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fanden nie in einem rechtsfreien Raum statt.11 Sie ereigneten sich in mächtigen zeitlichen Strukturen von lokalen Ehegesetzen und bevölkerungspolitischen Debatten, religiösen Vorstellungen und familiärer Verwandtschaftspolitik. Eheschließungen waren nicht nur begehrt, sondern auch „normiert, kontrolliert und umkämpft“, was offensichtlich auch heute noch so ist.12 Historisch betrachtet, waren sie Gegenstand von umfassenden kollektiven Ordnungsanstrengungen und obrigkeitlichen Normierungen, die im Zuge der Reformation aufgrund der Bekämpfung von klandestinen Ehen gegen den elterlichen Willen auch in katholischen Gebieten eine Intensivierung erfuhren.13 Und so gab es zahlreiche moralisch und ökonomisch begründete und gesetzlich kodifizierte Bestimmungen, die den Zugang zur Eheschließung und legitimen Sexualität begrenzten. Diese Normen strukturierten auch das Zustandekommen der Ehe, also die Form von Eheschließungen.14 Die Ehegesetze nahmen Einfluss auf die Eheführung und Geschlechterordnung und unterwarfen sie der Kontrolle der Ehegerichte. Daneben bestanden moralische, gewohnheitsrechtliche Vorstellungen lokaler Gemeinschaften und Familien, die aus dem „sozialen Nahraum“ laufend vergegenwärtigt und zum Teil in disziplinarischer Weise eingefordert wurden.15 Nicht zuletzt hatten auch die Moraltheologen der Kirche ihre Ideen von der gottgefälligen Ehe und ihrer Herstellung.16 Alle diese Faktoren formierten den multinormativen historischen Kontext der Eheschließung.17

      Dennoch konstituierten Eheschließungen, vielseitigen und komplexen gemeinschaftlichen Interessen sowie Begehrlichkeiten zum Trotz, nie nur, aber letztlich immer auch Face-to-Face-Beziehungen. Darin entsprachen sie oft nicht den gesetzlichen Bestimmungen oder standen im Widerspruch zu gewohnheitsrechtlichen Idealen in lokalen Gemeinschaften. Sie konnten in Konflikt mit der Verwandtschaftspolitik der Familie geraten. Zum Teil befanden sie sich in Spannungen mit zeitgenössischen Moralvorstellungen oder stellten eine Bedrohung für gemeinschaftliche Ressourcen dar.18 Gleichzeitig konnte die Auffassung einer moralischen Ökonomie von ländlichen Gemeinschaften mit den bevölkerungspolitischen Absichten der städtischen Obrigkeit kollidieren.19 Eheschließungen waren somit „auf konstitutive Weise uneindeutig“.20 Sie oszillierten stets zwischen individuellen Bedürfnissen und Interessen unterschiedlicher Kollektive. Die Ambivalenz und Konfliktträchtigkeit, die ihnen inhärent war, begründete ihre außerordentliche gesamtgesellschaftliche „Politizität“.21 Aufgrund der weitreichenden sozialen Implikationen der Eheschließung wurde ihr Wesen kontinuierlich und zwischen ganz unterschiedlichen AkteurInnen, Gemeinschaften und Institutionen ausgehandelt.22 Das hing gerade mit dem Umstand zusammen, dass die einzelne Eheschließung in ihrem Vollzug vielfach nicht mit den gemeinschaftlichen Normvorstellungen und Ehegesetzen zur Deckung kam.23 Die vielfältige Praxis der Eheschließung erschöpfte sich nämlich keinesfalls in der Erfüllung der Normen.24 Und so existierten nicht nur zu jeder Zeit spezifische Ehevorstellungen, die entlang bestimmter „politisch-historische[r] Phasen und Konjunkturen“ verliefen.25 Daneben herrschten bereits in der jeweiligen Zeit zwischen den an der Herstellung von Ehe beteiligten AkteurInnen und Institutionen sehr unterschiedliche ideelle und praktische Assoziationen mit der Eheschließung in Bezug auf ihren Sinn und ihre Funktion. Die unterschiedlichen praktischen Interpretationen und Ausgestaltungen der Eheschließungen standen dabei oftmals in Konkurrenz zueinander. Die am praktischen Aushandlungsprozess der Ordnung beteiligten AkteurInnen konnten mit einer Eheschließung sehr unterschiedliche Interessen und Absichten verbinden. Verlobte, Nachbarn, Verwandte und die Obrigkeit mussten deshalb in der Praxis gemeinsam elaborieren, was in Bezug auf die Konstitution der Ehe ihren gesellschaftlichen „common ground“ bilden sollte.26 Während die heiratswilligen AkteurInnen eine grundlegende Verbesserung ihrer Lebenssituation anstrebten oder Heiratsunwillige im Fall einer Eheklage eine Verschlechterung derselben abzuwehren gedachten, versuchten Gemeinden und Korporationen den Zugang zu kollektiven Ressourcen und deren Belastung durch Unterstützungsbedürftige und Fremde zu begrenzen. Familien betrieben mit der gezielten Verheiratung ihrer Angehörigen Verwandtschaftspolitik. Dieser musste der individuelle Wille eines einzelnen Mitglieds untergeordnet werden.27 Die Familien sicherten damit ihren Besitz ab und erweiterten oder erschlossen neue Netzwerke, die ihnen Zugang zu Ressourcen in Aussicht stellten.28 Die Obrigkeit versuchte mithilfe von Ehegerichten und über Ehebewilligungen sowie -verbote spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur aus moralisch-religiösen, sondern vor allem auch aus bevölkerungspolitischen Gründen das Reproduktionsverhalten der Untertanen zu steuern.29 Dies erzeugte Konflikte zwischen Individuen, kommunalen Gemeinschaften und der territorialen Obrigkeit, die der Schlichtung und Mediation bedurften.

      3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung

      Die vorliegende Arbeit widmet sich den beschriebenen vermittlungsbedürftigen Konflikten, die in Zeiten des Umbruchs in besonders intensiver Weise geführt wurden. In Transformationsphasen wurden die Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft zeitlich konzentriert herausgefordert, weil herkömmliche Normen häufiger und stärker strapaziert und in Frage gestellt wurden.1 So waren Zeiten tiefgreifender Wandlungsprozesse immer auch „Zeiten intensiver Beschäftigung mit der Ehe“, da sie im Zentrum sozialer und geschlechterspezifischer Ordnung stand.2

      Mit einem von der Geschichtswissenschaft als solche Transformationsphase klassifizierten Zeitabschnitt, der sogenannten ‚Sattelzeit‘, beschäftigt sich die vorliegende Studie.3 Sie widmet sich der Erforschung der Eheschließung im Gebiet der ehemals mächtigen und wohlhabenden reformierten Stadtrepublik Bern zwischen ausgehendem Ancien Régime und Bundessstaatsgründung (1848).4 Dabei verfolgt sie das Ziel in einem lokalen Kontext im Rahmen der historischen Ehe- und Familienforschung mit einem praxeologischen Ansatz zu einer differenzierten Einschätzung der Genese der modernen Familie zu gelangen und etablierte Meinungen dazu kritisch zu hinterfragen.5

      Die reformierte Stadtrepublik – nota bene „die grösste nördlich der Alpen“ im Ancien Régime,6 deren Territorium bis zu ihrem Untergang ca. ein Drittel der Fläche der Eidgenossenschaft ausmachte7 – bietet sich am Übergang vom Ancien Régime zum 19. Jahrhundert innerhalb der Eidgenossenschaft als besonders vielversprechender und relevanter Untersuchungsraum an, nicht zuletzt weil dem Gebiet von der Geschichtswissenschaft immer wieder ein ambivalentes Verhältnis zur Moderne nachgesagt wird. Es scheint unklar und eine Frage der historiographischen Perspektive zu sein, wann und in welcher Weise diese in Bern eigentlich einsetzte.8 Im späten Ancien Régime waren die Verhältnisse in der gesamten Alten Eidgenossenschaft, zu deren 13 Mitgliedstaaten Bern seit 1353 durch multi- und bilaterale Bündnisverträge gehörte,9 von einem spannungsreichen Nebeneinander einerseits verfassungspolitischer Stagnation und andererseits sozialer und wirtschaftlicher Dynamik geprägt. Soziale Ungleichheiten akzentuierten sich in Stadt und Land und auch zwischen diesen Kulturräumen. An den meisten Orten wuchsen Bevölkerung und Wirtschaft. Ressourcenknappheit nahm zu und mit ihr Verteilungs- und Nutzungskonflikte. Das Konsumverhalten der Menschen veränderte sich, Wissen und Ideen wurden von neu entstehenden Bildungsinstitutionen und durch zunehmende Öffentlichkeit multipliziert. Dennoch spielten sich diese dynamisierenden Prozesse in ständisch-korporativen und feudalen Strukturen ab.10 Innerhalb dieser Entwicklung stellte Bern eher die Regel als die Ausnahme dar. So sei gerade Bern im 18. Jahrhundert in der Eidgenossenschaft zum „Inbegriff des aristokratischen Ancien Régime“ geworden,11 das sowohl Elemente sozioökonomischer Dynamik wie politischer Stagnation integrierte.

      Das sehr große und vor allem agrarisch geprägte Territorium, das bis 1798 die Untertanengebiete Aargau und Waadt miteinschloss, erstreckte sich im 18. Jahrhundert vom Jura im Norden über das Mittelland bis in die Alpen im Süden. Folglich war die große kulturelle und wirtschaftliche Diversität ein konstitutives Merkmal des ehemals mächtigen Kantons.12 Das Territorium von Bern beheimatete gegen Mitte des 18. Jahrhunderts über die zwanzigfache Bevölkerung (300‘000) der verhältnismäßig kleinen Stadt (weniger als 15‘000 Einwohner), von wo aus im 18. Jahrhundert ein selbstbewusstes und sich zunehmend verengendes städtisches Patriziat über ungefähr einen Drittel aller BewohnerInnen der damaligen Eidgenossenschaft regierte. So gilt Bern im 18. Jahrhundert nicht nur aufgrund seiner ausgeprägten innereidgenössisch militärischen Stärke neben Zürich als „Primus inter Pares“ innerhalb des Corpus Helveticum, sondern auch wegen seiner Ausdehnung und Bevölkerungsgröße.13 Die soziale Ungleichheit war auf dem Gebiet des Stadtstaats im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert stark ausgeprägt und erfuhr in Regionen ausbleibender Protoindustrialisierung sogar eine Akzentuierung.