Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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in gleicher Weise ausgewertet werden, dass alle untersuchten Individuen die gleiche Anweisung erhalten, diese Tests ganz global ausgedrückt objektiver und ökonomischer zu handhaben sind.

      Zusammenfassung

      Die ersten Versuche, Intelligenz zu erfassen und messbar zu machen, wurden unter Einbeziehung geistiger, physiologisch motorischer und perzeptiver Leistungen unternommen. Anregungen lieferten neben der Psychologie und Medizin (spez. Psychiatrie) vor allem auch die Mathematik und Physik. Der Gedanke, vom „durchschnittlichen“ Individuum, von „durchschnittlichen“ Leistungen und von Abweichungen vom Durchschnitt auszugehen, gewann stärker an Bedeutung.

      Binet bezog in sein „Staffelsystem“ die Idee einer relativen Übereinstimmung von Intelligenzleistungen und Lebensalter ein. Sein Stufentest wurde verbreitet und weiterentwickelt in den USA, in Deutschland, in der Schweiz und in zahlreichen anderen Ländern. Mit der Einführung des „Intelligenzquotienten“ (IQ) durch William Stern (1912) wurde ein heute noch gebräuchliches Maß für die Messung der Intelligenz geschaffen. Die Methoden der Intelligenzerfassung fanden unter Einbezug sogenannter Gruppen- und nonverbaler Verfahren rasche Verbreitung.

      Im pädagogisch-sonderpädagogischen Bereich wäre die Entwicklung von „Verfahren“ zur Einschätzung der kognitiven Möglichkeiten eines Kindes unter Einbezug von Handlungen aus dem Bereich seiner bisherigen Umwelt, also in seiner natürlichen Umgebung, wünschenswert. Hierbei einen gangbaren Mittelweg zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Beobachtung auch im Sinne qualitativer Diagnostik zu finden (Bundschuh 2019, 58 ff., Kap. 5.5.2), könnte eine zukünftige pädagogische Aufgabe sein. Die Kritik am Intelligenzbegriff hat auch zu einer deutlichen Verunsicherung der Intelligenzdiagnostik insbesondere im sonder- oder heilpädagogischen Arbeitsfeld geführt.

      Psychologische Diagnostik gilt zunächst als ein Teilgebiet der Psychologie, speziell der angewandten Psychologie. Diagnostik umfasst die Gesamtheit der Verfahren und Theorien, die dazu dienen, Verhalten und psychische Prozesse einzelner Personen oder auch Gruppen zu erforschen. Diagnostik hatte im Rahmen sonder- oder heilpädagogischer Problemstellungen schon immer eine große Bedeutung, wurde aber auch kritisch hinterfragt.

      Die Erwartungen an die Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld, speziell auch bezüglich der Kinder mit mehrfachen und komplexen Problemen im Lernen und Verhalten bis hin zu Mehrfachbehinderungen, erweisen sich als hoch. Diese Erwartungen im Sinne des Auffindens optimaler Förderungswege in Richtung Therapie und „Heilung“ sind nicht immer ganz erfüllbar. Dennoch wird eine kinderorientierte, d. h. für die wirklichen Probleme eines Kindes und seines sozialen Umfeldes offene heilpädagogische Diagnostik gute Dienste im Rahmen des Entwicklungs- und Erziehungsgeschehens leisten, vor allem durch die Möglichkeiten der Informationsgewinnung zur differenzierten Beschreibung des Verhaltens und der Lernausgangslage bei Kindern mit einem besonderen Förderungsbedarf, der Diagnose behindernder Bedingungen sowie den daraus hervorgehenden Ansätzen zu deren Beseitigung in Verbindung mit Beratung, Förderung, ggf. Therapie. Insofern nimmt die Beschäftigung mit diagnostischen Fragestellungen angesichts der Zunahme von Not- und Problemsituationen bei Kindern und Jugendlichen auch in einer Zeit des Umbruchs und Wandels im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld einen wichtigen Platz ein.

      Diagnostik erhält auch eine neue Bedeutung im Rahmen der Erstellung von Förderplänen (Kap. 6.6.3) sowie der herausfordernden Fragen nach Integration und Inklusion (Bundschuh 2010, 91–99; 2019) bis hin zu Möglichkeiten von Therapien (Bundschuh 2008, 242–302), speziell auch Lerntherapie (Metzger 2008).

      3 Begriff, Aufgaben, Funktionen und Bereiche der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik

      Lernziele

      1. Den Begriff „Psychodiagnostik“ kennen lernen.

      2. In der Lage sein, zwischen Psychodiagnostik und sonderpädagogischer Diagnostik zu differenzieren.

      3. Die Einsicht gewinnen, dass der Aufgabenbereich sonderpädagogischer und heilpädagogischer Diagnostik in unmittelbarem Zusammenhang mit dem pädagogischen Feld, d. h. mit Problembereichen von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, Störungen, Behinderungen und behindernden Bedingungen steht.

      4. Erkennen, dass sonder- und heilpädagogische Diagnostik primär „Förderdiagnostik“ sein sollte.

      Zur Orientierung: In diesem Abschnitt wird es um die Klärung des Begriffes Psychodiagnostik, um die Abgrenzung der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik von der Diagnostik im Bereich der Medizin, aber auch der Psychologie gehen; schließlich werden Aufgabenbereich und Funktion sonderpädagogischer Diagnostik im Hinblick auf den Aspekt Förderdiagnostik thematisiert.

      3.1 Zum Begriff „Psychodiagnostik“

      Dagegen soll die Psychodiagnostik im Allgemeinen überdauernde Eigenschaften bestimmen. Die Psychodiagnostik ist daher weitgehend nicht nur Diagnose, sondern auch Prognose (Vorhersage) (Schmidt-Atzert / Amelang 2012, 4). Ein eher traditionelles Vorgehen in der Persönlichkeitsdiagnostik zielt auf ein Verstehen der dem Individuum zugrunde liegenden Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften ab, um auf diesem Weg Verhalten vorherzusagen. Es ergibt sich die Frage, ob die Psychodiagnostik, vor allem die traditionelle Psychodiagnostik, mit der Vorhersage von Verhalten nicht in hohem Maße stärker eine „Selektionsstrategie“ im Sinne einer Optimierung durch geeignete Auswahl von Personen und / oder Bedingungen betrieb als eine „Modifikationsstrategie“ im Sinne einer „Optimierung durch eine Veränderung des Verhaltens und / oder von Bedingungen“ (Pawlik 1982, 15 f.).

      Selektionsstrategie im Zusammenhang mit Personenselektion würde im engeren Sinne realisiert, wenn es z. B. um Aufnahme oder Ablehnung, um die Platzierung eines Bewerbers bei der Personaleinstellung oder im pädagogischen Bereich um die Selektion durch Vorschultestung (Schulreife) oder um die Aufnahme in eine Förderschule geht.

      Zu fordern wäre auf jeden Fall im pädagogischen Bereich eine Betonung der Modifikationsstrategie, obgleich die Realität teilweise nur eine „Mischstrategie“ zuzulassen scheint. Nachdem an dieser Stelle der Problemkreis „Strategien der Psychodiagnostik“ nur tangiert werden kann, sollen einige Forderungen an die Psychodiagnostik im pädagogischen Bereich in akzentuierter Form angeführt werden:

      Die Verwendung psychodiagnostischer Methoden muss dem jeweiligen Problemfall angepasst sein. So kann z. B. die Intelligenzleistung eines Kindes mit einer Sprachstörung nicht erschöpfend mit dem WISC-IV / HAWIK-IV (2011; 2010) erfasst werden. Weiterhin darf das Ergebnis einer psychodiagnostischen Untersuchung für die betroffene Person nicht „Festlegung“ bedeuten, vielmehr den Ansatz zur Hilfe, zur Förderung und zur Emanzipation der Persönlichkeit. Diagnostik muss also Information zwecks Förderung, ggf. Therapie, d. h. effektive Hilfe für die betroffene Person bedeuten.

      Diagnose und damit auch Prognose implizieren den Impuls zu weiteren diagnostischen Maßnahmen in einem späteren Zeitpunkt. So versteht bereits Pawlik alternativ zur „Diagnostik als Messung“ die Diagnostik in einem „übergreifenden Ansatz als Einbringen von Information für und über Behandlung […]. Zielsetzung bei der Konstruktion psychodiagnostischer Verfahren und bei ihrer Gütekontrolle muss daher der Gewinn (Nutzen, „utility“) sein, den diese diagnostische Information 1. für die Auswahl einer geeigneten Behandlung der untersuchten Person und / oder 2. für die Beurteilung der Effektivität der danach realisierten Behandlung bringt. Dabei ist mit „Behandlung“ […] jede Handlung gemeint, die der Psychologe, der Proband selbst und / oder andere Personen mit Wirkung für den Probanden setzen“ (Pawlik 1982, 34).

      Welcher Methoden bedient sich nun die Psychodiagnostik? Diagnostiziert wird aufgrund von Anamnese (med. Aspekt: Ermittlung der Krankengeschichte; psychol. Aspekte: Erhellung des Lebenslaufes im Hinblick