Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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bis zur Hochschulreife zu gelangen. Schulen für den Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung und für den Förderbedarf Sprache streben nach entsprechendem therapeutischem Erfolg eine Rückführung in das Regelschulsystem an. Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen hingegen vermitteln einen eigenen Abschluss und bieten die Option einer externen Hauptschulabschlussprüfung. Schulen für Kinder mit Förderbedarf geistige Entwicklung führen meistens in eine beschützende Einrichtung. In einigen Bundesländern gibt es nachdrückliche Bemühungen, diese Differenzierung zu überwinden und Kinder mit Behinderung bzw. mit einem speziellen Förderbedarf in Regelschulen „integrativ“ zu fördern. Insgesamt werden gegenwärtig fast 66.000 (13,3 %) der Schüler mit Behinderung in Regelschulen integrativ unterrichtet. Die Integrationsquote variiert jedoch in Abhängigkeit vom Schweregrad der Behinderung, der Behinderungsart oder auch von der Höhe des Förderbedarfs beträchtlich (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2003). Im Zusammenhang mit der Integrations- und Inklusionsdebatte wird in der erziehungswissenschaftlichen Literatur und im Praxisfeld zunehmend der Begriff „behindert“ zu Gunsten der Umschreibung „Person / Schüler mit besonderem / speziellem Förderbedarf“ ersetzt.

      Anforderungen an die Diagnostik

      Primäres Ziel der sonderpädagogischen Diagnostik ist die Feststellung des besonderen Förderbedarfs mit einer anschließenden Entscheidung über den angemessenen Förderort (Förderschule oder Regelschule). Das dabei von Lehrkräften der Sonder- bzw. Förderschulen durchzuführende Verfahren ist weitgehend durch Verordnungen der Bundesländer geregelt, in denen u. a. eine medizinische und eine sonderpädagogisch-diagnostische Überprüfung verbindlich vorgeschrieben werden. Soweit es sich auf schulische Entscheidungen bezieht, ist das Verfahren für die verschiedenen Gruppen von Kindern mit Behinderung formal weitgehend gleich und von der Wahl des späteren Förderortes unabhängig. Verantwortlich für seine korrekte Durchführung ist die Schulaufsicht.

      Spezielle Förderung kann darüber hinaus auch an Regelschulen unter Einbezug mobiler sonderpädagogischer Dienste an Sonderpädagogischen Förderzentren erfolgen. Die Regelschule hat an sich auch die Aufgabe, Schüler zu fördern. Hierzu ist ein von einem Kompetenzteam erstellter Förderplan hilfreich (Bundschuh 2019, 231–247, Kap. 6.6.3), d. h., auch an der Regelschule kann individuelle Förderung mittels eines Förderplanes durchgeführt werden.

      Bei Kindern mit Sinnesbeeinträchtigung (-schädigung) oder Kindern mit Körperbehinderung erfolgt eine einschlägige Diagnostik bereits im Kleinkind- oder Vorschulalter (Kap. 5.2.2). Sie ist im Rahmen von Frühförderung teils medizinisch, teils pädagogisch-psychologisch an den Möglichkeiten sensorischer oder motorischer Förderung orientiert (Bundschuh 2019, 256–267). Bei Kindern mit Sprachstörung ist eine Diagnostik der Sprachentwicklung (Sprachdiagnostik), die in logopädische Therapien münden kann, schon im Vorschulalter möglich. Bei vorliegendem Förderbedarf geistige Entwicklung (traditionell „geistige Behinderung“) steht pädagogisch-psychologisch betrachtet die Diagnostik des Entwicklungsstandes mit Hilfe von Entwicklungsskalen und Entwicklungstests, speziell auch unter Anwendung diagnostischer Verfahren für verschiedene Schweregrade von Behinderung, und darüber hinaus die Diagnostik adaptiver Kompetenzen im Vordergrund (Kap. 5.2.2.2 bis 5.2.2.4). Entwicklungsstörungen, speziell auch Förderbedarf geistige Entwicklung, zu diagnostizieren bedeutet, sich an pädagogischen Prinzipien der Frühdiagnostik und Frühförderung zu orientieren.

      Obwohl Verhaltensstörungen relativ frühzeitig diagnostiziert werden können, wird die Diagnose für viele Kinder erst im Grundschulalter relevant, wenn sie mit den Regeln für angemessenes schulisches Verhalten kollidieren. In der schulischen Praxis werden Aufmerksamkeitsstörungen (Aufmerksamkeitsdiagnostik) und soziale sowie emotionale Störungen (Bundschuh 2003, 159–180; 2019, 193–206, 219–229) häufig als dominierend beschrieben.

      Förderbedarf Lernen tritt in der Regel im Gegensatz zu den übrigen Förderbedürfnissen (traditionell: Behinderungsarten) erst im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beschulung auf. Aus diesem Grund ist es grundsätzlich diskussionswürdig, inwieweit Lern- und / oder Verhaltensprobleme mit den Ressourcen des Kindes zusammenhängen oder als institutionelles Versagen der Schule zu betrachten sind.

      Die Diagnostik von Kindern mit einem speziellen Förderbedarf erweist sich häufig als komplex, denn es muss meist auch die Kind-Umfeld-Diagnose einbezogen werden, teilweise verbunden mit der Problematik „Grenzfälle“ und Mehrfachbehinderung. Kinder mit Lernschwierigkeiten zeigen häufig auch Verhaltensstörungen; Kinder mit Sprachstörungen haben teilweise auch Schwierigkeiten im Lernen; sinnes- und / oder organgeschädigte Kinder können ebenso verhaltensgestört, sprachgestört oder lernbehindert sein wie sensorisch und körperlich gesunde Kinder. In solchen Fällen kann die vorgesehene Beschulung dann eher von äußeren Umständen (z. B. Erreichbarkeit von Schulen) als von konkreten Ergebnissen der Diagnostik abhängen.

      Gerade die Diagnostik von „Lernbehinderung“ galt lange Zeit und gilt heute noch als problematisch im Kontext umstrittener Praxis.

      Im Jahre 1973 verabschiedete der Deutsche Bildungsrat eine einflussreiche Definition von Lernbehinderung, die unterdurchschnittliche Intelligenzleistung und schwerwiegendes, umfängliches Schulversagen als bestimmende Merkmale von Lernbehinderung vorsah (Deutscher Bildungsrat 1973, 38). Die Diagnose Förderbedarf Lernen umfasst weit mehr als Intelligenzdiagnostik und Schulleistungsdiagnostik.

      Die angeführte Definition von Lernbehinderung stimmt nicht, wie man vermuten könnte, mit dem überein, was im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch unter „learning disabilities“ verstanden wird. Diese werden als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher und unterscheidbarer Störungen (oder Schwierigkeiten) verwendet, die das Lernen beeinträchtigen können. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Rechenschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsstörungen gehören beispielsweise dazu. Learning disabilities werden vorwiegend als isolierte Teilleistungsstörungen bei durchschnittlicher Intelligenz betrachtet, die nicht zu „umfänglichem Schulversagen“ führen müssen. Sie fallen daher nicht unter den Begriff der Lernbehinderung.

      Je umfänglicher der Förderbedarf – „das Schulversagen“ – eines Kindes ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Teilleistungsstörungen gemeinsam auftreten.

      Insofern bedeutet eine Diagnostik von Lernbehinderung auch Sprachdiagnostik, Aufmerksamkeitsdiagnostik und Diagnostik von Lernstörungen.

      Dies stimmt mit einem differenzierten Beschreibungsversuch von Kanter (1980) überein, in dem Lernbehinderung einerseits auf niedrige Intelligenz zurückgeführt wird und andererseits auf chronifizierte Lernstörungen, die neurologisch, konstitutionell, psychoreaktiv und / oder sozio-kulturell bedingt sein können. Es handelt sich demnach bei den Schülern mit einem speziellen Förderbedarf Lernen (bisher „Lernbehinderung“ genannt) um eine heterogene Gruppe. Dies zeigt sich auch an den Inhalten der diagnostischen Gutachten.

      Aus Sicht der Psychologie unterscheidet sich der diagnostische Prozess bei Kindern mit einem hohen Förderbedarf (Kinder mit Behinderung) nicht grundsätzlich von sonstiger pädagogisch-psychologischer Diagnostik, allerdings liegt der Schwerpunkt auf der sonder- und heilpädagogischen Verantwortung. Im außerschulischen Kontext arbeiten Psychologen u. a. mit (Kinder-)Ärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern, Kindertherapeuten, Logopäden oder Physiotherapeuten zusammen. Dabei geht es um individuelle Diagnostik und Therapie, die in der Regel als unmittelbare Hilfe wahrgenommen werden. Im schulischen Kontext dagegen sind auch schwierige institutionelle Entscheidungen zu treffen, dabei sind Sonderpädagogen die professionellen Interaktionspartner.

      In Ablehnung einer Diagnostik, die Selektionsentscheidungen im Schulsystem unterstützen oder gar legitimieren sollte, entwickelte sich das Programm Förderdiagnostik (Bundschuh 1994; 2007; 2019). Es geht dabei zunächst um das (Fremd-) Verstehen der Kinder, um Beziehungsgestaltung, ganzheitliche, qualitative und / oder prozessorientierte-systemische Sichtweisen. Quantitative Diagnostik (standardisierte Tests oder Kategoriensysteme) spielt vor allem im institutionellen Bereich eine Rolle. Darüber hinaus leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Erkennung von Ursachen (z. B. Wahrnehmungsstörungen, Ängste, psychische Probleme allgemein) und kann damit auch im Dienste einer differenzierteren Analyse einer Lern-Leistungs- und / oder Verhaltensproblematik und der sich daraus abzuleitenden Fördermaßnahmen stehen.