Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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haben. So kann man sagen, dass jedes Kind mit einer Behinderung auch „mehrfachbehindert“ sein wird, denn auch soziale und emotionale Bereiche sind in der Regel betroffen (Bundschuh 2003). Daraus ergibt sich die Aufgabe, durch Förderpläne und Einleitung kompensatorischer Maßnahmen Folgebeeinträchtigungen orientiert an vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen vorzubeugen.

      Aber auch nach der Beseitigung einer Störung werden weitere Betreuung und Fürsorge notwendig sein, dafür müssen behindernde Bedingungen im Umfeld des Kindes analysiert und neutralisiert werden.

      Man kann wie folgt den Gegenstand sonderpädagogischer Diagnostik beschreiben: Gegenstand einer sonderpädagogischen Diagnostik ist der Mensch / das Kind, der / das bezüglich einer (optimalen) Entfaltung seiner Möglichkeiten im geistigen, sozialen, emotionalen oder physischen Bereich gefährdet, bedroht, gestört oder behindert ist, wobei Prozesse der Isolation von der Aneignung der Welt (behindernde Bedingungen) stets mitgedacht werden müssen.

      Einbezogen werden demnach in den Gegenstandsbereich die Sozialrückständigkeiten der Gesellschaft, die in der Form von Einstellungen, Verhaltensweisen, Gepflogenheiten, materiellen Bedingungen und gesetzlichen Regelungen, Gefährdungen, Störungen und Behinderungen teils verursachen, teils steigern, teils ignorieren und damit mögliche Hilfestellungen verhindern.

      Aus diesem komplexen Gegenstand ergibt sich für die sonderpädagogisch-psychologische Diagnostik ein weites Aufgabenfeld.

      Innerhalb unseres Schulsystems stehen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der individuellen Schulkarriere institutionelle Entscheidungen über den weiteren schulischen Werdegang an. Dabei stellt die Entscheidung für oder gegen den Förderschulbesuch eines Kindes oder Jugendlichen eine Besonderheit dar. Sie verlangt die Durchführung eines formellen Verfahrens, in dessen Verlauf eine pädagogisch-psychologische Diagnostik und Begutachtung erfolgt. Dieses Tätigkeitsfeld wird in der deutschen Sonderpädagogik als eine genuin pädagogische Aufgabe betrachtet, bei welcher der Psychologie nur der Status einer Hilfswissenschaft zugesprochen wird. In der Praxis werden daher in der Regel ausschließlich Lehrer für Sonderpädagogik mit dieser Aufgabe betraut; die Beteiligung von Diplom-Psychologen stellt eine Ausnahme dar, wenngleich Kooperation stets wünschenswert ist.

      (1) Sie bemüht sich um die Diagnose des Erscheinungsbildes von „Beeinträchtigungen“ (Gefährdung, Störung, Behinderung, sonstige Probleme). Mit dem Erkennen einer Form der Gefährdung ist zugleich die Erforschung der Ätiologie des Phänomens unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes, speziell der Erziehungsfelder (Familie, Pflegefamilie, Heim, Schule) und der materiellen Umwelt sowie ökonomischer Bedingungen verbunden. Hinweise und Informationen oder nur Informationen erhält man durch Fremd- und Eigenanamnese (Kap. 5.3), durch Befragung von Eltern, Lehrern, weitere Bezugspersonen, Kind, durch vorliegende Schülerakten, manchmal auch durch den Einsatz von Testverfahren (Angst, Motivation, Wahrnehmung …). Bei der Frage nach der Ätiologie ist der diagnostizierende Sonderpädagoge auf ärztliche Untersuchungsbefunde angewiesen. Allerdings werden vom Mediziner nur Aussagen über physische Bereiche erwartet. Der Arzt kann z. B. Hinweise auf organisch bedingte Störungen geben, die zur Erklärung einer Verhaltensstörung beitragen können, oder er kann verweisen auf Sinnesbeeinträchtigungen, die von ärztlicher und pädagogischer Seite zu entsprechenden Aktivitäten führen müssen.

      Es sollte nicht die Aufgabe des Arztes sein, einen Förderbedarf festzustellen, sondern den allgemeinen Gesundheitszustand des Kindes sowie mögliche organische Ursachen einer Störung, insbesondere Sinnesbeeinträchtigungen, und Möglichkeiten einer ärztlichen Behandlung zu erkennen. Die Aufgaben, Probleme und Prinzipien der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pädagogen werden immer wieder diskutiert, wobei folgende Aspekte im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen:

      1. Analyse der Aufgaben einer Zusammenarbeit und Präzision der Notwendigkeiten einer Kooperation;

      2. Formen von Kooperation, Hintergründe von Problemen, Ansätze für erforderliche Veränderungen;

      3. Ableitung von Prinzipien wirksamer Kooperation zwischen Ärzten und Pädagogen aus den gemeinsamen Aufgaben und den vorliegenden negativen und positiven Erfahrungen.

      Dabei werden vor allem vier Formen unzweckmäßigen Verhaltens zwischen Medizinern und Pädagogen unterschieden: die Konfrontation, die Okkupation, Subordinationsansinnen und bloß additive Beziehungen.

      (2) Die sonder- oder heilpädagogische Diagnostik entscheidet, ob ein Kind einer individuellen Betreuung und Förderung mittels Aufnahme in eine Förderschule bedarf oder ob möglicherweise auf der Basis von Beratung des Regelschullehrers oder der Eltern, vielleicht auch mit Hilfe „Mobiler Dienste“ individueller Förderunterricht oder Therapie genügen. Ein ganz besonderes Problem stellen Kinder dar, deren Leistungen sich im Grenzbereich bewegen. Dabei sei betont, dass ein Gutachten ohne Vorschläge für praktikable Fördermaßnahmen im Aufgabenbereich der sonderpädagogischen Diagnostik nahezu wertlos ist.

      (3) Liegt sonderpädagogischer Förderbedarf vor, bedarf es der Entscheidung, in welcher Schule (Regelschule oder Förderzentrum) der Schüler am besten gefördert werden kann; bzw. ob eine spezielle Förderung durch ambulante Dienste oder eine Therapie, ggf. Lerntherapie, angezeigt erscheint.

      Analoge Entscheidungen wären auch vor dem Schuleintritt bezüglich einer bestimmten vorschulischen Einrichtung zu treffen.

      Bei Schülern mit Mehrfachbehinderungen i. e. S. ist die Frage der Aufnahme in eine bestimmte Schule nicht selten mit großen Problemen verbunden. Es gibt Kinder, die z. B. deutliche Merkmale einer Körperbehinderung, einer sprachlichen Behinderung oder einer geistigen Behinderung zeigen. Bei solchen Kindern sollte nicht in erster Linie nach der Offensichtlichkeit einer Behinderung entschieden werden, vielmehr sollten das Wohl des Kindes, seine Entfaltungsmöglichkeiten, vor allem der individuelle Förderbedarf bei der Wahl der Fördermaßnahmen dominieren.

      (4) Eng verbunden mit der Diagnose ist die Prognose. Es werden gezielte und überlegte Hinweise auf die mögliche zukünftige Entwicklung gegeben. Es geht um die Fragestellung der Hilfe, Förderung, Förderaussichten, gegebenenfalls auch der Heilungschancen einer Krankheit oder auch um die Verschlechterung eines Verhaltens oder Zustandsbildes. Auch in diesem Fall muss überlegt werden, was optimal getan werden kann (z. B. Muskelschwund, Autismus, Hyperaktivität). Bei Kindern und Jugendlichen im Hauptschulalter kann mit der Prognose auch die Frage der Eignung für ein bestimmtes Berufsfeld verbunden sein; denn gerade im sonderpädagogischen Bereich müssen Spezialbegabungen im Hinblick auf geistige, soziale, körperliche Möglichkeiten besonders früh erkannt und gefördert werden.

      Die Prognose hängt wesentlich von der Kenntnis des Umfeldes eines Kindes ab. Wichtige Momente sind beispielsweise die Flexibilität oder Rigidität, ganz einfach die Umstellungsfähigkeit der Eltern bei Erziehungsfehlhaltungen, die Wirkung einer Heimaufnahme, Fördermaßnahmen, therapeutische Einflüsse, die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule überhaupt.

      Über die Probleme der „Prognose“ wird im Verlauf dieses Abschnittes eingehender diskutiert.

      Die weiteren Aufgaben der sonderpädagogischen Diagnostik können nach den einführenden Beschreibungen in kurzer Form aufgezählt werden. Diagnostische Aktivitäten mit Gutachtenerstellung und Förderungsvorschlägen sind nötig:

      (5) bei eventueller Rücküberweisung (Rückführung) an die Regelschule;

      (6) bei einer Überweisung an eine andere (sonderpädagogische) Einrichtung bzw. Förderschule;

      (7) jeweils am Ende eines Schuljahres für den Schülerbogen und den Förderplan (meist Kurzgutachten über Fortschritte, Verschlechterungen, psychische und soziale Auffälligkeiten, Verhalten allgemein);

      (8) wenn die Eltern eine Verlängerung der Schulbesuchszeit beantragen, d. h., die Lehrer müssen beurteilen, ob eine Verlängerung pädagogisch sinnvoll ist;

      (9) bei einer Heimeinweisung;

      (10) bei Gericht und Jugendamt (Diebstahl, Vergewaltigung, Gewaltanwendung …)

      (11) im Zusammenhang mit