Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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physischer Besonderheiten; heute mehr durch Gespräch, Interview als Stellungnahme zu den erhobenen Anamnesedaten, zu Testdaten sowie zu dem jeweiligen Problem gedacht), Verhaltensbeobachtung, durch vorliegende Befunde und ganz allgemein durch Tests (Methoden der Psychologie thematisiert informativ und anwendungsbezogen speziell Kap. 5). Der Tests, in all ihren Formen, bedient sich die Psychodiagnostik je nach vorliegender Fragestellung in verschiedener Auswahl immer häufiger, ja ausschließlicher, um möglichst objektive und umfassende Informationen zu erhalten. Historisch gesehen entstand die Leitidee von einer Wissenschaft der psychologischen Diagnostik im Zusammenhang mit der Entwicklung des Testbegriffes. Seit der Erscheinung des Rorschachbuchs mit dem Titel „Psychodiagnostik“ im Jahre 1920 setzte sich dieser Begriff immer mehr durch. Rorschach verstand sein Verfahren einmal als „Test“ oder „Prüftest“, zum anderen aber auch als „wahrnehmungs-diagnostisches Experiment“, d. h., aufgrund der Art der Wahrnehmung sollten psychische Krankheiten erkannt werden. In der Folgezeit erschienen Werke über „psychologische Diagnose“, Lehrbücher wurden geschrieben mit den Titeln „Psychodiagnose“, „psychologische Diagnose“, „diagnostische Psychologie“. Unter diesen Bezeichnungen und speziell unter dem Begriff psychologische Diagnose versteht man die Gesamtheit aller Verfahren, welche der Erkundung der individuellen psychischen Struktur eines Menschen dienen.

      Die Diskussion der Frage, ob durch diese „Erkundung“ und durch Vorhersage von Verhalten nicht „festgeschrieben“, „selegiert“, statt modifiziert wird, erfolgt an anderer Stelle.

      Am besten gelingt der Zugang zu dem angesprochenen Problembereich, wenn zunächst die Personengruppe beschrieben wird, mit der die sonderpädagogische Diagnostik konfrontiert wird.

      Traditionell gesehen lässt sich die sonderpädagogische Diagnostik dadurch kennzeichnen, dass sie es mit – möglicherweise – psychisch-kognitiv oder auch physisch behinderten Kindern und Jugendlichen zu tun hat, die in ihrer geistigen, emotionalen, sozialen, möglicherweise auch motorischen und sensomotorischen Entfaltung beeinträchtigt, gestört oder behindert sind, d. h. von sogenannten durchschnittlich entwikkelten oder nichtbehinderten Kindern hinsichtlich Lern- und / oder Sozial- und Emotionalverhalten abweichen. Dabei ist auf die Problematik des Verständnisses und damit auf die Relativität und auf das unterschiedliche Verständnis von „Störung“ und „Behinderung“ hinzuweisen. Im Zusammenhang mit Schülern mit Lernbehinderungen z. B. wird von einer Gruppe gesprochen, die unterhalb der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit liegt, wobei sonderpädagogischer Förderbedarf nach den KMK-Empfehlungen von 1994 eben nicht nur an speziellen Sonder- oder Förderschulen eingebracht werden kann, vielmehr an allen Schulen denkbar ist, z. B. im Bereich der Grund- und Hauptschule bis hin zu Gymnasien etwa bei vorliegenden Lern-, Leistungs- und Verhaltensstörungen, wie auch immer verursacht. Die spezielle Bedürfnis- und Problemsituation von Kindern fordert gegenwärtig verstärkt vor allem im Präventivbereich psychologische, speziell diagnostische und allgemein didaktisch-fachliche Kompetenzen im Hinblick auf Diagnose und Erkennung der Problematik sowie Unterstützung des Kindes und der Erziehungspersonen und mit der Zielrichtung Förderung ggf. Lerntherapie (Bundschuh 2008, 32–36; 2019).

      Wenn auch die Gruppe der Schüler mit Lernbehinderungen (Förderbedarf Lernen) und / oder Verhaltensstörungen (Förderbedarf Verhalten, soziale und emotionale Entwicklung) den größten Bereich der mit sonderpädagogisch-diagnostischen Maßnahmen zu Konfrontierenden umfasst, geht es nicht allein und primär um diese Gruppe, vielmehr steht die Frage der Hilfe, Unterstützung und Förderung aller Kinder mit einem besonderen Förder- und / oder Lerntherapiebedarf im Vordergrund der Überlegungen.

      Traditionell gesehen hat es die sonderpädagogische Diagnostik mit allen Personen zu tun, mit denen sich die allgemeine Sonderpädagogik beschäftigt, also mit allen „Formen der Beeinträchtigung“, wie sie von Bach beschrieben wurden (1995, 8 f.). Wenn man vom Schweregrad ausgeht, müsste man die teilweise nicht oder kaum objektiv feststellbare Form der „Gefährdung“ (Auffälligkeit) sowie das Bedrohtsein von Behinderung an den Anfang stellen und als gravierende Form die Behinderung nennen.

      Bach definiert „Beeinträchtigung“ als „die Erschwerung“ der Personalisation und Sozialisation eines Menschen. Sie ist durch besondere Herausforderungen an Erziehung und Förderung bei Erziehungsprozessen in Familie, Schulen, ggf. auch in Heimen gekennzeichnet.

      Liegt noch keine objektive Feststellung vor, wird erst von bloßer Auffälligkeit gesprochen. Der Übergang zwischen regelhaften und erschwerenden, unregelhaften Gegebenheiten des Erziehungsprozesses ist fließend, Beginn und Ausmaß der einzelnen Beeinträchtigungen sind nicht präzise zu fixieren. Beeinträchtigungen müssen unter dem Aspekt subjektiver, sozialer, situativer und temporärer Relativität gesehen werden.

      Im diagnostischen Bereich wird es notwendig sein, die Probleme eines Kindes sowie die behindernden Bedingungen im Umfeld in differenzierter Form zu erkennen und zu analysieren. Traditionell gesehen wurde zwischen einzelnen Formen von Beeinträchtigungen unterschieden, demgemäß zwischen Schweregraden von Beeinträchtigungen.

      Kinder mit Behinderungen waren auf der Basis der Überlegungen des Deutschen Bildungsrates der 1970er Jahre dadurch gekennzeichnet, dass ihre individuellen Beeinträchtigungen, „umfänglich“, (d. h., mehrere Lernbereiche sind betroffen), „schwer“ (d. h., graduell mehr als ein Fünftel unter dem Regelbereich liegend) und „langfristig“ (d. h. eine Angleichung an den Regelbereich ist voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren nicht möglich) waren. Die Frage wäre natürlich, ob z. B. alle „Lernbehinderten“ „behindert“ waren im Sinne dieser Definition.

      Heute beschäftigt sich die Diagnostik im Arbeitsfeld Sonder- und Heilpädagogik vor allem mit der Problemsituation des einzelnen Kindes im Kontext Beeinflussung durch das Umfeld, speziell mit der Frage nach dem individuellen Förderbedarf – im Unterschied zu Klassifizierungen und Zuordnungen zu „Schweregraden von Beeinträchtigungen“.

      Die sonderpädagogische Diagnostik befasst sich auch mit Kindern mit Lern- und Verhaltensstörungen bzw. -auffälligkeiten. Bach definiert Störungen als „individuale Beeinträchtigungen, die partiell (d. h. nur einen Lernbereich betreffend), oder weniger schwer (d. h. graduell weniger als ein Fünftel vom Regelbereich abweichend) oder kurzfristig (d. h. voraussichtlich in bis zu zwei Jahren dem Regelbereich anzugleichen) sind“ (1995, 9 f.). Auch hierbei geht es in erster Linie – wiederum traditionell betrachtet – um Zuordnungen.

      Bei Kindern mit Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten kommt der sonderpädagogischen Diagnostik primär die Aufgabe zu, Störungen hinsichtlich ihrer Ätiologie, vor allem im Kontext behindernder Bedingungen zu analysieren, das Kind zu stützen und eine für das Kind positive Veränderung im Umfeld zu bewirken.

      Die nächste Personengruppe, mit der sonderpädagogische Diagnostik konfrontiert wird, sind Kinder und Jugendliche mit Gefährdungen. Gefährdungen bezeichnet Bach als

      „Beeinträchtigungen, die in der Form somatischer, ökonomischer oder sozialer Lernbedingungen mit erschwerendem Charakter Störungen oder Behinderungen zu bewirken oder zu verstärken angetan sind“ (1995, 10).

      Im Zusammenhang mit Gefährdungen sind vor allem „Prävention“und „Prophylaxe“ von Bedeutung (Bundschuh 2009, 26–30). So ist es dringend notwendig, dass im vorschulischen Stadium (Kindergarten, Vorschule, Schulkindergarten oder schon früher) Gefährdungen erkannt und aufgrund von Verhaltensbeobachtungen und des Einbezugs von Entwicklungsskalen Möglichkeiten kompensatorischer Erziehung und Förderung im Hinblick etwa auf Lernreize und soziales Verhalten entworfen und realisiert werden.

      Schließlich ist es auch notwendig, „Sozialrückständigkeiten“ zu diagnostizieren, d. h. Beeinträchtigungen der Gesellschaft, die in der Form von Einstellungen, Verhaltensweisen, Gepflogenheiten, materiellen Bedingungen und gesetzlichen Regelungen, Gefährdungen, Störungen und Behinderungen teils verursachen, teils steigern und teils ignorieren und damit mögliche Hilfestellungen verhindern (Bach 1995, 19). Die „Diagnose behindernder Bedingungen“ (Bundschuh 2019, 101–105) wird seit einigen Jahren verstärkt gesehen und erforscht.

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